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Er verscheuchte den Gedanken, drehte sich abermals herum und blickte wieder zu den Bäumen herab, hinter denen sich das Lager der Quorrl verbergen sollte.

Was er sah, gefiel ihm nicht. Das Stück Weg von der Höhle hierher war leicht gewesen: der Hang war ein wahres Labyrinth zyklopischer Felstrümmer und -brocken, zwischen denen sich eine ganze Armee verstecken konnte, und die Quorrl waren sicher nicht sehr aufmerksam, denn sie rechneten mit einem Mädchen und einem Kind, nicht mit einem Krieger. Aber schon zwanzig Schritte weiter änderte sich das Bild total. Die Felsen, die ihm bis hierher Deckung gegeben hatten, gab es dort nicht mehr. Der Hang war so glatt, daß nicht einmal ein Hund darauf Deckung gefunden hätte, und auf dem gesamten Weg zu den Bäumen hin gab es nichts außer ein paar Sträuchern, denen der Herbst bereits alle Blätter genommen hatte.

Einen Moment lang überlegte Skar, einfach hierzubleiben, bis es dunkel geworden war, verwarf den Gedanken aber beinahe sofort wieder. Die Kälte würde ihn töten, wenn er noch lange so reglos hier hockte. Er spürte schon jetzt, wie seine Muskeln sich verkrampften. Seine Zehen und Finger prickelten vor Kälte. Und was das Verhalten der Quorrl und ihrer menschlichen Begleiter anging, war er nicht ganz so zuversichtlich, wie er Talin und Syrr gegenüber behauptet hatte.

Er beugte sich noch einmal vor, raffte eine Handvoll Schnee auf und rieb sie sich ins Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben und den Schmerz in seinem Kiefer zu betäuben. Dann richtete er sich vollends hinter dem Felsen auf.

Geduckt schlich er los.

3.

Skar hatte sich verschätzt. Es wurde dunkel, lange bevor er das kleine Wäldchen erreichte - was zum Teil daran lag, daß das Gelände noch weniger Deckung bot, als er geglaubt hatte, zum anderen daran, daß auch Syrr sich getäuscht hatte: Bis zum Sonnenuntergang verging keine Stunde mehr, sondern kaum die halbe Zeit. Und als die Dunkelheit dann kam, war sie fast absolut. Die Sonne erlosch, und die dichtgeschlossene Wolkendecke verschluckte auch das letzte bißchen Sternenlicht. Skar konnte kaum weiter als zehn Schritte sehen. Wäre nicht fast unmittelbar nach Sonnenuntergang ein Feuer zwischen den Bäumen vor ihm angegangen, so hätte er das Lager vermutlich gar nicht gefunden. Aber auch so erreichte er es mehr durch Glück als irgend etwas anderes. Ein paarmal stolperte er im Dunkeln über Hindernisse, die unter der trügerisch glatten Schneedecke verborgen lagen, und einmal - hinterher lachte er darüber, aber als es geschah, sprang sein Herz vor Schrecken bis fast in seine Kehle hinauf - fuhr er mit kampfbereit erhobenen Fäusten herum und spannte sich schon zum Sprung, ehe er sah, daß der vermeintliche Gegner, der so unvermittelt neben ihm aus der Nacht aufgetaucht war, nichts anderes als ein Baum war. Skar lächelte über seine eigene Dummheit. Aber er begriff auch, daß dieser an sich harmlose Irrtum eine Warnung war, die er besser beherzigen sollte: Nicht nur seine körperliche Leistungsfähigkeit hatte gelitten, während des vielleicht wochenlangen Schlafes.

Seine Reaktionen waren nicht mehr die eines Satai. Er reagierte noch immer schnell - aber vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben auch falsch.

Skar umging den kleinen Waldflecken in weitem Bogen, prüfte noch einmal die Windrichtung und vergewisserte sich, daß die Hunde seine Witterung nicht aufnehmen konnten, ehe er weiterschlich. Daß er beinahe nackt war, kam ihm jetzt zugute: Die Kälte war quälend, und obwohl er mit aller Macht dagegen ankämpfte, spürte er seine Beine bis zu den Knien hinauf schon nicht mehr. Aber seine bloßen Füße verursachten auf dem verharschten Schnee auch so gut wie kein Geräusch; und er hatte keine Kleider oder Waffen bei sich, die einen verräterischen Laut verursachen konnten.

Sehr vorsichtig näherte er sich dem Feuerschein, der durch das kahle Unterholz schimmerte. Er hörte Stimmen, ohne die Worte zu verstehen, dann das Schnauben von Pferden. Kein Hundegebell. Entweder waren die Tiere gar nicht hier, oder sie nahmen seine Witterung wirklich nicht auf.

Skar näherte sich dem Feuerschein, bis er die zusammengekauerten Schatten davor erkennen konnte.

Es waren Quorrl, wie das Mädchen gesagt hatte, und mindestens eine menschliche Gestalt. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die Skar nicht verstand, und laut genug, um ihre Sorglosigkeit zu verdeutlichen. Die Pferde standen ein Stück abseits des Feuers, so angebunden, daß sie an den wenigen Blättern nagen konnten, die der Winter übriggelassen hatte, aber noch in Sichtweite der Quorrl. Skar zählte sie. Es waren vier. Also hatte Syrr sich verschätzt - zu ihrem Vorteil. Vier Pferde, das bedeutete vier Reiter. Und ein kleinerer, struppiger Schatten, der schlafend dalag, den Kopf auf die Pfoten gebettet und die Lefzen nach oben gezogen, so daß das unnatürliche Weiß seiner Fänge durch die Nacht blitzte wie eine stumme Warnung. Den Hund mußte er töten, wenn er die Pferde stehlen wollte, ohne entdeckt zu werden. Aber wie?

Skar unterdrückte einen Fluch. Was hatte er eigentlich getan, daß nichts, was begann, einfach sein konnte?

Aufmerksam sah er sich um. Der Wald war nicht sehr dicht an dieser Stelle. Die Bäume standen eng beieinander, aber es gab kaum Unterholz, und auf dem hellen Schnee mußte sich seine Gestalt deutlich abheben, ganz egal, wie leise er war. Es schien unmöglich, sich den Pferden zu nähern, ohne gesehen zu werden. Sein Blick glitt an den glatten Stämmen der Bäume empor, tastete über die schneeverhangenen, schweren Äste, dann wieder zurück zum Lagerfeuer...

Einer der vier Schatten bewegte sich. Für einen Moment lag sein Gesicht deutlich im roten Widerschein des Feuers.

Der Anblick traf Skar wie ein Schlag.

Er war noch immer sehr weit entfernt - zu weit, um die Züge des Mannes deutlich erkennen zu können. Aber er sah deutlich das schmale lederne Stirnband, das er trug, und den fünfzackigen silbernen Stern, der daran befestigt war.

Das Zeichen der Satai...

Etwas in Skar zog sich zusammen wie ein getretener Wurm. Ein Satai! Ein Satai, der zusammen mit einer Bande fischgesichtiger Quorrl Jagd auf zwei Kinder machte! Unmöglich! Das war unmöglich! Unmöglich!

Der Mann drehte den Kopf wieder zurück, und das Blitzen des fünfzackigen Sternes erlosch. Für einen Moment klammerte sich Skar mit aller Kraft an den Gedanken, daß er sich getäuscht hatte, daß es irgendein Schmuckstück gewesen war, billiger Tand, der nur zufällig dem heiligen Emblem der Satai ähnelte, vielleicht auch ein Beutestück, das der Kerl einem Toten abgenommen oder schlichtweg gestohlen hatte...

Aber das eine war so unmöglich wie das andere, und er wußte es. Niemand - niemand - würde es wagen, den heiligen Stern der Satai nachzuahmen. Und ein Straßenräuber, der sich mit dem Zeichen eines toten Satai schmückte? Ebensogut konnte er sich gleich selbst die Kehle durchschneiden - jeder Satai Enwors hätte ihn gejagt bis ans Ende der Welt und darüber hinaus.

Aber wenn der Mann wirklich Satai war...

Skar spürte ein Gefühl schrecklicher Hysterie in sich emporkriechen. War das überhaupt noch Enwor? War das noch die Welt, die er kannte? War er... ja - war er überhaupt erwacht? Für einen Moment erwog er diese Möglichkeit allen Ernstes: nämlich die, daß er in Wahrheit noch schlief, daß all dies nichts als ein entsetzlicher Alptraum war, in den ihn der Trank der Gesichtslosen Prediger hineingezwungen hatte, und aus dem er nicht erwachen konnte.

Aber dann spürte er die Kälte, die seinen Oberschenkel emporkroch, den dumpfen Schmerz, der noch immer in seinem Gesicht wühlte, das Hämmern seines Herzens... wenn es ein Traum war, dann war es der realistischste, den er jemals geträumt hatte.