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Nein - er mußte hier weg. Sofort.

Er wußte nicht wie, und er wußte nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann nach einer Ewigkeit, in der er nur Schmerz und Erschöpfung gespürt hatte - und irgendwo, tief verborgen in seinem Inneren, den eisernen Willen, nicht aufzugeben - fand er sich halb bewußtlos im Sattel des größeren der beiden Pferde sitzend wieder, die Hände um das hartgewordene Leder des Zaumzeugs gekrampft, den linken Fuß im Steigbügel, das verletzte, steif gewordene rechte Bein in fast absurdem Winkel abgespreizt.

Mühsam zwang er das Tier herum, ritt zu dem toten Hund zurück und zog den Speer aus seinem Leib. Er bildete sich nicht ein, die Kraft zu haben, einen weiteren Kampf durchzustehen - aber die Waffe würde wenigstens eine halbwegs brauchbare Krücke abgeben, sollte er aus irgendeinem Grunde laufen müssen. Der kleine Ausschnitt des Himmels, den er über der Lichtung erkennen konnte, drehte sich vor seinen Augen. Für einen Moment schienen sich die Wolken rot zu färben.

Aber er durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Es war egal, wenn er starb, aber vorher mußte er noch etwas tun, etwas Bestimmtes und Wichtiges, von dem er vergessen hatte, was es war, aber das unbedingt getan werden mußte. Del. Der Name blitzte in seinem Bewußtsein auf, wie etwas, das zu einer lange zurückliegenden Zeit gehörte, einer Zeit, zu der er längst jeden Bezug verloren hatte. Sein Sohn. Das Kind. Irgend etwas war mit dem Kind, aber das Fieber verhinderte, daß er sich erinnerte, was. Vielleicht war es auch etwas anderes, etwas, das er nur für Fieber hielt, weil es ebenso fremd war und ebenso weh tat. Das Kind. Das Kind. Sein Kind. Er mußte es finden. Er mußte es finden und...

...töten?

5.

Am Abend erreichte er den Fluß, und zum ersten Mal seit seinem Erwachen im Tempel der Gesichtslosen Prediger schien das Glück auf seiner Seite zu sein: Er fand nicht nur den Fluß - einen knapp hundert Meter breiten, ruhig dahinfließenden Strom, der allerdings zu mehr als zwei Drittel zugefroren war - sondern auch ein Haus.

Skar sah schon von weitem, daß es unbewohnt war. Das strohgedeckte Dach war auf einer Seite unter dem Gewicht des Schnees eingesunken, die Tür stand offen, und eines der Fenster war zerbrochen. Der Wind, der heulend und eisig über ihn hergefallen war, kaum daß er den Schutz der Bäume verlassen hatte, spielte klappernd mit einem losen Fensterladen, und von der anderen Seite des Daches stieg pulverfeiner Schnee wie weißer Rauch auf. Skar hatte selten ein Gebäude erblickt, das so verlassen und einsam aussah wie diese kleine Hütte. Aber das Haus würde ihm wenigstens Schutz vor dem Wind bieten, wenn schon nicht vor der Kälte, und mit ein bißchen Gluck fand er etwas Brennbares; vielleicht sogar Kleider.

Skar hatte schon vor Stunden angefangen, sich in Gedanken dafür zu verfluchen, daß er die Kleider des Toten nicht mitgenommen hatte. Pietät hin oder her - die Kälte war längst durch den Mantel gekrochen, den er um seine Schultern geschlungen hatte.

Zumindest dämpfte sie den Schmerz in seinem Bein auf ein erträgliches Maß.

Sein Pferd lief von selbst schneller, als es die Nahe des Wassers witterte. Wie sein Reiter hatte es seinen Durst während des Tages nur mit Schnee gestillt, den es selbst auf dem Boden, Skar auf den tiefhängenden Ästen der Bäume gefunden hatte, an denen sie vorüberkamen.

Das Absteigen wurde zu einem Problem. Sein Bein war während des Tages bis in die Hüfte hinauf steif geworden. Als er versuchte, sich aus dem Sattel zu schwingen, schrie er vor Schmerz. Sein Pferd machte einen erschrockenen Satz, und Skar konnte sich gerade noch an seiner Mähne festklammern, um nicht abgeworfen zu werden.

Beim zweiten Versuch war er vorsichtiger: Er rammte den Speer in den Boden, verlagerte ganz behutsam sein Körpergewicht und ließ sich halbwegs aus dem Sattel fallen, wobei er sich mit beiden Händen an den Speerschaft klammerte. Trotzdem fiel er auf ein Knie.

Es dauerte lange, bis er die Kraft fand, sich wieder hoch zu stemmen und zum Haus zu humpeln.

Wie er erwartet hatte, war es leer. Durch das zerbrochene Dach war Schnee gesickert und zu Eis erstarrt, und obwohl er aus dem Wind heraus war, schien ihm die Kälte hier drinnen grausamer als draußen. Er drückte die Tür hinter sich zu, so gut er konnte, lehnte sich erschöpft dagegen und sah sich um. Das graue Zwielicht und der zollstarke Eispanzer, der sich wie eine milchige Haut um die Möbel, den Boden und die Wände und selbst das zerbrochene Fenster schmiegte, gaben dem Haus etwas Geisterhaftes, Unheimliches. Skar glaubte, das Flüstern der Schatten in den Ecken und Winkeln geradezu zu hören.

Er blieb stehen, bis sich sein hämmernder Puls halbwegs wieder beruhigt hatte, und begann mühsam durch den Raum zu humpeln. Es gab eine zweite Tür auf der gegenüberliegenden Seite, die in einen kleinen Nebenraum führte, der den früheren Bewohnern dieses Hauses offensichtlich als Schlafkammer gedient hatte, denn er war vollkommen leer bis auf ein Bett und eine schwere hölzerne Truhe, deren Deckel offen stand und die jetzt außer Eis und Schnee nichts mehr enthielt.

Kein Essen, dachte er matt. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihm - er war nicht sicher, daß er noch einmal aufwachen würde, wenn er sich jetzt in dieses Bett legte, um zu schlafen. Aber er wußte, wie sinnlos es war, das Haus noch einmal zu durchsuchen. Es war verlassen, von seinen Bewohnern aufgegeben und geräumt wie der Tempel der Gesichtslosen Prediger, und vermutlich schon vor Monaten. Selbst wenn sie etwas von ihren Vorräten zurückgelassen hätten, wäre es mit Sicherheit mittlerweile verdorben.

Schwer auf seinen Speer gestützt schloß er die Tür, humpelte zum Bett und ließ sich stöhnend darauf niedersinken. Es war naß und die Decke hartgefroren; als Skar sie beiseite schlug, knisterte sie wie dünnes Glas. Er hatte fast Angst, daß sie unter seinen Fingern zerbrechen würde.

Er ließ den Speer fallen, schnallte das Schwert ab und kroch zitternd unter die feuchtkalte Decke, ohne auch nur den Mantel abzustreifen. Und plötzlich war es ihm egal, ob er noch einmal erwachen würde.

6.

Er starb nicht, aber in der Nacht kam das Fieber. Und mit ihm die Träume.

Er sah sich selbst aus einer erhöhten Position, als hätte er sich in einen großen Vogel verwandelt, der mit lautlosen Flügelschlägen über dem Land schwebte, wie er das Haus erreichte und hineinkroch; dann, nach einem jähen Schnitt, das verdreckte Bett, auf dem er sich ausgestreckt hatte, vielleicht um zu sterben. Für einen Moment verwirrte sich das Bild. Rote Linien aus Schmerz und dunklere, breitere Spuren der Angst wanden sich vor seinen Augen wie Schlangen. Dann war er wieder er selbst, blickte gegen die Decke, durch die Sternenlicht und Schnee rieselten, und plötzlich, auf jene völlig unlogische und trotzdem keinen Widerspruch duldende Weise, die Träumen und Phantasien nun einmal eigen ist, spürte er, daß er nicht mehr allein war. Obwohl ein Teil von ihm schlief und so von Fieber und Krämpfen geschüttelt wurde, daß er nicht einmal einen Finger rühren konnte, drehte ein anderer Teil den Kopf und neben seinem Bett stand der Daij-Djan. Helths Spottgeburt. Das Ungeheuer von der Eisinsel!

Aber das war unmöglich. Skar wollte schreien, sich aufbäumen, fortkriechen, weg, nur weg von diesem entsetzlichen schwarzen Ding, das aus den Abgründen seiner eigenen Seele emporgekrochen war, um ihn zu vernichten, aber er konnte es nicht, er war gelähmt vor Entsetzen und Angst, hilflos ausgeliefert. Er wußte, daß es unmöglich war. Es war tot. Der Dronte hatte es vernichtet, mit dem Feuer der Sterne, dem nichts widerstehen konnte, aber es war da, schwarz und klein und böse, starrte ihn mit seinem augenlosen glitzernden Schädel an, ein Schädel wie aus poliertem schwarzem Stahl, stachelgekrönt und häßlich. Es stand einfach da, starrte ihn an und streckte plötzlich die Hand nach ihm aus. Aber es war keine Hand, es war eine Insektenklaue, hart und klein und mit zu vielen Fingern, die wie Messer gekrümmt und ebenso scharf waren, und diese Hand berührte ihn, glitt wie eine mißgestaltete gepanzerte Spinne über seinen Arm, kroch an seiner Schulter empor und näherte sich seinem Gesicht, verharrte, kroch zurück und glitt an seiner Brust herab. Gib es mir! wisperte eine Stimme in seinem Kopf. Gib es mir, und du wirst leben.