Das Kind lag reglos, als schliefe es, obwohl seine Augen offenstanden. Zu Anfang hatte es viel geschrien und mit den Beinen gestrampelt, aber seine Bewegungen waren jedes Mal, wenn Skar kam und es sah, matter geworden, sein Schreien kraftloser und leiser. Vielleicht war es tot.
»Ihr habt ihm... einen Namen gegeben?« fragte er stockend. Der Prediger lächelte. »Es braucht keinen Namen, Skar. Niemand, der hier lebt, braucht einen Namen. Auch ich habe keinen.«
Skar nickte, setzte die Schale abermals an die Lippen und senkte sie wieder, ohne getrunken zu haben. »Es wäre mir lieber, wenn es einen Namen hätte«, sagte er. Er wußte selbst nicht genau, warum er diese Worte sprach. Und trotzdem war es vielleicht das erste Mal, seit er hier herunter gekommen war, daß er etwas mit Nachdruck sagte.
Der Prediger blickte ihn aus seinen unergründlichen Augen an. »Sein Name ist Tod, Satai.«
Zorn flammte in Skar auf, aber nur für einen Moment. »Ich bin hier, damit es nicht so kommt«, sagte er. Es fiel ihm schwer, aber er hielt dem Blick des Alten stand; diesmal.
»Es geht nicht«, sagte der Prediger. »Wie könnten wir ihm einen Namen geben, wenn wir nicht wissen, wer er ist? Namen engen ein. Sie sind schädlich. Sie legen Dinge fest, die noch nicht bestehen. Sie formen das Ungeformte. Unser Glaube verbietet uns, Namen zu tragen, und es ist eine weise Entscheidung. Du kannst ihm einen Namen geben, wenn alles vorüber ist.«
Für einen Moment regte sich noch einmal Widerstand in Skar, aber er erlosch auch diesmal so schnell, wie er kam. Er war nur noch müde. Er wollte es hinter sich bringen, so schnell er konnte. Er hatte zu lange gekämpft.
»Ich verstehe dich, Satai«, fuhr der Prediger fort. »Glaube nicht, daß wir grausam sind. Ich weiß, daß die Menschen Angst vor uns haben und uns für grausam und böse halten. Aber das stimmt nicht. Ich begreife deine Qual, und ich teile sie. Du hast ihm das Leben gegeben, und du hast gekämpft wie nie ein Mensch zuvor, um es zu schützen. Jetzt wirst du es vielleicht töten müssen, obgleich es ein Teil deiner selbst ist. Alles, was du ihm noch geben zu können glaubst, ist ein Name.«
Skar starrte den Alten verwirrt an. Las er seine Gedanken? Oder war es so leicht, sie auf seinen Zügen zu erkennen? Er erschrak. Wieder spürte er diese Schwäche, eine Erschöpfung, die nichts mehr mit körperlicher Müdigkeit zu tun hatte. ›Sein Name ist Tod‹, hatte der Prediger gesagt. Aber war das nicht in Wahrheit sein eigener Name? Standen nicht Furcht und Angst in den Augen der Menschen, wenn sie über ihn sprachen ? Vielleicht war das, was er bisher immer für Ehrfurcht und Respekt gehalten hatte, in Wahrheit nichts anderes als nackte Angst.
Ohne ein weiteres Wort setzte er die Schale an die Lippen und leerte sie in einem einzigen Zug. Die Flüssigkeit war eisig, kälter noch als Eis, und die Kälte ließ sie geschmacklos werden und betäubte das Brennen, mit dem sie seine Kehle herabrann. Der Prediger hatte versprochen, daß es fast schmerzlos sein würde. Und plötzlich hatte er keine Angst mehr. Er fühlte sich frei, ein Mann, der alles getan hatte, was er tun mußte. Es gab nichts mehr, was auf ihn wartete. Seine ganze Sorge hatte dem Kind gegolten, in den letzten dreieinhalb Monaten, aber auch das war vorbei. Ruhig gab er dem Alten die Schale zurück.
»Wie lange wird es dauern ?«
»Niemand weiß das, Satai. Stunden, Wochen, Jahre - vielleicht Jahrhunderte. Für dich wird keine Zeit vergehen. Du wirst einschlafen und wieder aufwachen.«
»Vielleicht.«
»Vielleicht.«
Skar schwieg. Die Spur dumpfer Betäubung, die die Flüssigkeit in seiner Kehle zurückgelassen hatte, wich langsam einem schmerzhaften Prickeln und Brennen, aber gleichzeitig breitete sich, von seinem Magen kommend und im Rhythmus seiner Herzschläge, ein Gefühl wohltuender Betäubung in seinem Körper aus. Es würde ein Wettlauf werden, aber wenn überhaupt, dann würde er nur für sehr kurze Zeit Schmerzen ertragen müssen. Er fürchtete sich nicht davor. Der Schmerz war sein Bruder. Er hatte gelernt, ihn zu lieben.
»Was«, murmelte er, »wenn ich... wenn ich verliere?«
»Wir werden dir helfen«, antwortete der Prediger. »Wir und Er.«
Er. Skar schauderte. Der Gesichtslose Gott. Der Gott ohne Namen. Warum hatte er plötzlich Angst, Angst vor einem Begriff, einem Gott, der nur aus einer Idee bestand, wie all die anderen Götter auch? Wovor hatte er Angst, gerade er, der Unbesiegbare, der stärkste Mann, der jemals den fünfzackigen Stern der Satai getragen hatte? Er, der die Existenz von Göttern und Dämonen stets verleugnet und ihnen ins Gesicht gelacht hatte? »Du bist stark, Satai«, sagte der Prediger und fügte nach einer Weile des Schweigens hinzu: »Und - wir werden dir beistehen.«
»Stark...« Skar lächelte bitter. Die Taubheit breitete sich schnell in seinem Körper aus und begann seine Gedanken einzulullen. Es war ein angenehmes Gefühl. »Vielleicht bin ich stark, aber er -«
»Hat die Macht eines Gottes?« Diesmal lachte der Alte wirklich, und zum ersten Mal, seit Skar dieses unterirdische Reich des Schweigens betreten hatte, glaubte er ein Echo zu hören, nicht mit seinen normalen menschlichen Sinnen, denn sie zählten hier unten nicht, sondern mit seiner Seele: ein leises, vielleicht spöttisches, möglicherweise höhnisches Lachen, mit dem... Etwas auf seine Worte reagierte. Der Gesichtslose Gott mochte keinen Namen haben, aber er war nicht stumm.
»Vielleicht hat er sie«, fuhr der Alte ernsthaft fort. Das Brennen in Skars Kehle wurde stärker und fast unerträglich. »Aber du bist sein Vater, Satai. Kann er ein Gott sein, - wenn ein Sterblicher ihn gezeugt hat?« Wieder lachte er. »Du fürchtest ihn, Satai, und du tust recht daran, ihn zu fürchten, denn sein Name ist Tod, und er ist ein Kind des Hasses. Aber du hast ihn schon einmal besiegt.«
»Er war jünger. Gerade geboren und... unsicher. Und ich habe ihn nicht besiegt. Darum ging es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Zerstören ist leichter als Erschaffen, alter Mann.«
»Nicht Erschaffen. Formen. Du wirst er, und er wird du. Kämpfe nicht gegen ihn. Forme ihn. Denke daran, daß es unmöglich ist, ihn zu vernichten. Du kannst ihn töten, aber damit würdest du alles nur noch schlimmer machen.«
Skar wollte antworten, aber seine Stimme versagte ihm plötzlich den Dienst. Die Woge der Lähmung erreichte seine Knie. Er wankte, griff zitternd nach dem Prediger und fiel, als seine Finger nicht mehr die Kraft hatten, zuzupacken.
»Wehr dich nicht, Satai«, sagte der Prediger. »Es geht schneller, wenn du dich nicht wehrst. Aber ich fürchte, das kannst du nicht. Dazu bist du zu stark. Und Stärke wird leicht zum Fluch.« Er sprach noch weiter, aber Skar verstand nicht mehr, was er sagte. Ein dumpfes, immer unangenehmer werdendes Brausen und Rauschen war mit einem Mal in seinen Ohren, und dann, ganz plötzlich, war der Schmerz da. Ein entsetzlicher Schmerz, der von Augenblick zu Augenblick schlimmer wurde. Der Alte hatte ihn belogen. - es tat weh. Sehr.
Aber nicht einmal mehr diesen Gedanken dachte er zu Ende. Er war nicht allein, und es war dieses Gefühl, das ihn weckte: jemand war bei ihm.
Skar versuchte die Augen zu öffnen, aber im ersten Moment ging es nicht. Auf seinen Lidern lag ein schwerer, nicht einmal unangenehmer Druck, ein Gefühl wie von weichen Fingern, die sich auf seine Augäpfel preßten, und in seinen Gliedern war jene betäubende Schwere, die von langem Schlaf kündete. Überhaupt hatte er das Gefühl, sehr lange geschlafen zu haben; und sehr, sehr tief. Trotzdem fühlte er sich wohl. Da war nichts von der Benommenheit, dem schlechten Geschmack und dem Druck auf Kopf und Schläfen, der das Erwachen aus zu langem Schlaf normalerweise begleitete; Skar fühlte sich allenfalls ein bißchen matt.