Die Eisdecke begann unter ihrem Gewicht zu knistern, als sie sich der Flußmitte näherten, und obwohl Enwass sich alle Mühe gab, möglichst gelassen zu erscheinen, entging Skar der besorgte Ausdruck auf seinen Zügen nicht. Der Winter war noch nicht alt; die Eisdecke konnte nicht sehr dick sein, und das Gewicht von gleich drei Männern war enorm. Ein Sturz in das eisige Flußwasser, dachte Skar besorgt, käme einem Todesurteil gleich, wenigstens für ihn.
Aber sie erreichten das Floß unbeschadet, und sogar trockenen Fußes.
Es wurde jetzt rasch dunkel, und keiner von Enwass' Leuten hatte es gewagt, eine Fackel oder Lampe zu entzünden. Trotzdem sah Skar, daß das Gefährt noch größer war, als er im ersten Moment geglaubt hatte - und in noch schlechterem Zustand: Die Bespannung war falsch und offenbar mit weit mehr gutem Willen als Sachkenntnis angelegt worden, und trotz seiner Größe herrschte an Bord des Floßes eine drückende Enge, denn Enwass' Familie bestand aus einem guten Dutzend Personen, die zudem ihren gesamten Hausrat mitgenommen zu haben schienen - einschließlich einer kleinen Ziegenherde, zweier Schweine und eines Pferdes. Dazu kamen nun auch noch Skars Reittier und die Syrrs und Talins - mit dem Ergebnis, daß an Bord des kleinen Gefährtes eine entsetzliche Enge herrschte. Obwohl er unter freiem Himmel lag, hatte Skar das Gefühl, lebendig begraben zu sein.
Skar schlief wieder ein, ehe sie ablegten. Er erwachte mitten in der Nacht, fiebernd und von Krämpfen geschüttelt und trank dankbar das eiskalte Flußwasser, das ihm jemand einflößte. Später spürte er, wie sich geschickte Hände an seinem Bein zu schaffen machten, hatte aber nicht einmal die Kraft, die Augen zu öffnen und sich seinen Wohltäter anzusehen.
Als er das nächste Mal erwachte, war heller Tag. Die Sonne hatte die Wolken vertrieben, und über dem Fluß spannte sich ein hellblauer, sehr klarer Himmel, dessen Farbe den Schnee und die Kälte zu verspotten schienen. Entgegen Enwass' Behauptung hatten sie nicht angelegt, um den Tag in irgendeinem Versteck zu verbringen, sondern glitten mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf dem Fluß dahin. Skar konnte nicht viel von seiner Umgebung erkennen, denn er war, während er schlief, in die Mitte des Floßes gebracht worden, direkt unter das Segel, wo ihm der Berg von Enwass' aufgestapelten Habseligkeiten Schutz vor dem eisigen Wind gab. Trotzdem war ihm entsetzlich kalt.
Aber das Fieber war fort. Seine Lippen und Augenlider waren taub und geschwollen, und in seinem Mund war ein entsetzlicher Geschmack, aber er hatte kein Fieber mehr; und er hatte genug schwere Krankheiten und Verwundungen überstanden, um zu wissen, daß es auch nicht mehr zurückkommen würde. Er war noch immer schwach und müde und würde sicher Tage brauchen, bis er sich wieder einigermaßen mühelos bewegen konnte, und Monate, um seine gewohnte Kondition zurückzuerlangen - wenn überhaupt -, aber die Krise war überstanden.
Umständlich setzte er sich auf, lehnte den Rücken gegen den Mast, an dem sich das Flickensegel bauschte, und sah sich um. Syrr saß dicht neben ihm. Sie hatte die Beine an den Körper gezogen und die Stirn auf die Knie gebettet und war eingeschlafen, und hinter ihr, nur halb aufgerichtet und eine Hand gegen den improvisierten Mast gestützt, stand Enwass. Sein Blick war leer, und obwohl er genau in Skars Richtung starrte, schien er ihn nicht zu sehen.
Skar räusperte sich. Das Geräusch war nicht sehr laut, aber es weckte Syrr aus ihrem Schlaf und Enwass aus dem sonderbaren Dämmerzustand, in den er versunken war. Syrr lächelte, während ihn Enwass nur mit der schon bekannten Mischung aus Sorge und Mißtrauen anblickte. Aber jetzt war noch etwas dazugekommen - Angst. Nackte, an Panik grenzende Angst. Aber wovor?
»Wie fühlst du dich?« fragte Syrr. Die Frage kam ganz automatisch - jeder hätte sie gestellt, an Syrrs Stelle - und trotzdem spürte Skar, daß ihre Sorge nicht geschauspielert war. Er lächelte, aber er fühlte sich nicht sehr wohl dabei. Syrr war ein Kind, trotz allem, was sie erlebt hatte. Es war möglich, daß er sie schon zu sehr an sich gebunden hatte, um die Trennung schmerzlos werden zu lassen.
»Nicht gut«, antwortete er nach einer Weile. »Aber schon besser als gestern. Danke.«
»Du hattest hohes Fieber während der Nacht.«
»Ich weiß.« Skar seufzte, fuhr sich mit dem Handrücken über die aufgerissenen Lippen und sah zu Enwass hoch. »Hast du einen Schluck Wasser?«
Enwass nickte, drehte sich schwerfällig herum und balancierte über das schlüpfrige Holz zum vorderen Rand des Floßes. Skar sah, wie er in die Hocke ging, um Wasser aus dem Fluß zu schöpfen.
Er lächelte Syrr abermals zu, setzte sich ein wenig höher auf und versuchte, über den Rand der aufgestapelten Kisten und Leinensäcke hinwegzusehen. Der größte Teil von Enwass' Familie schlief noch - ein Dutzend in Felle gehüllter, zusammengerollter Bündel, die sich eng aneinandergeschmiegt hatten, um Schutz vor der Kälte der Nacht zu finden, die hier auf dem Wasser besonders empfindlich gewesen sein mußte. Skar sah, daß auch einige Kinder unter ihnen waren, und mit einem plötzlichen Gefühl von Schuld begriff er, daß man ihm den einzigen windgeschützten Platz an Bord des Floßes gegeben hatte; den, der wohl normalerweise den Kindern und Frauen vorbehalten war. Er vertrieb den Gedanken. Wäre es anders gewesen, wäre er vielleicht gestorben. Er würde seine Schulden bezahlen.
Enwass kam zurück, die Schale mit Wasser in der rechten und einen halben Laib Brot in der linken Hand. Skar nahm das Wasser an, lehnte das Brot aber mit einem stummen Kopfschütteln ab. Er war noch immer sehr hungrig, aber er wußte, daß ihm übel werden würde, wenn er jetzt aß.
Das Wasser war eiskalt und wirkte auf schon fast unangenehme Weise belebend. Skar spürte sich von einem Gefühl neuer Kraft durchströmt, als er die Schale geleert und Enwass zurückgegeben hatte - ein Gefühl, daß sehr trügerisch war, wie er wußte. Gab er ihm nach, würde er bitter dafür bezahlen müssen. Aber er genoß es einfach, dazusitzen und es zu spüren.
»Habt ihr... die ganze Zeit bei mir gewacht?« fragte er.
Enwass nickte. »Abwechselnd«, bestätigte er mit einer Kopfbewegung auf Syrr. »Meine Frau hat sich um dein Bein gekümmert.«
Skar sah erst jetzt, daß der Verband um seinen Knöchel erneuert worden war. Die provisorische Schiene war verschwunden, und die Tücher jetzt sauber und sehr fest angelegt. Probehalber versuchte er, den Fuß zu bewegen. Es tat weh, aber es ging. Wenn es unbedingt nötig war, würde er laufen können, wenn auch nicht sehr gut und mit Sicherheit nicht sehr lange.
»Ich habe dir gesagt, daß er nicht gebrochen ist«, sagte Syrr, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte. »Aber du glaubst mir offensichtlich nie.«
Skar überging die Bemerkung. Er war sicher gewesen, daß der Fuß gebrochen war - zum Teufel, er hatte gespürt, wie der Knochen brach! - aber die Tatsachen sprachen eindeutig dagegen. Vielleicht hatte das Fieber auch seine Erinnerungen verzerrt. Für einen Moment fragte er sich allen Ernstes, ob da vielleicht nicht noch mehr war, was er sich nur eingebildet hatte...
»Warum tut ihr das?« fragte er leise.
»Was?« Enwass legte den Kopf schräg.
»Mir helfen«, sagte Skar ernst. »Syrr und ihr Bruder glauben offensichtlich, in meiner Schuld zu stehen - aber du?« Er sah Enwass mit einer Art freundschaftlichem Mißtrauen an, die diesen vollkommen zu verwirren schien.
»Du riskierst eine Menge dabei, mich mitzunehmen«, fuhr er fort, als Enwass nicht antwortete. »Die Quorrl werden keine Ruhe geben, bis sie mich haben.«