Und er spürte, daß er nicht allein war.
Es war ein Gefühl von fast körperlicher Intensität, und es war sehr unangenehm. Wer immer in seiner Nähe war, war nicht sein Freund. Er konnte die Augen noch immer nicht öffnen, denn seine Lider waren vom langen Schlaf verklebt, und er hatte noch nicht den Willen, den kleinen Schmerz in Kauf zu nehmen, den die Überwindung des Widerstandes bedeutet hätte. Aber er spürte, daß etwas da war, und das dieses Etwas auf unangenehme Weise lauernd und bedrohlich zu sein schien.
Skar lauschte.
Er hörte... nichts.
Um ihn herum war Stille, ein absolutes, fast stofflich wirkendes Schweigen, in dem die einzigen Laute das gleichmäßige schwere Schlagen seines Herzens und seine eigenen Atemzüge waren, und obwohl sein Erinnerungsvermögen noch nicht zurückgekehrt war, war dies doch etwas, worauf er sich besann. Die Stille. Die allgegenwärtige, lastende Stille, die in dieser unterirdischen Welt aus quadratischen Räumen und rechteckigen Gängen herrschte. Eine Stille, wie es sie nur im Herzen eines Berges geben konnte, in einer Welt tief unter der Welt. Für einen Moment blitzte dieses Bild vor seinem geistigen Auge auf. Aber vielleicht war es auch genau umgekehrt: Vielleicht implizierte der Kokon aus Schweigen, in den er eingesponnen schien, auch nur diese Vorstellung, und alles war ganz anders.
Dann kam die erste konkrete Erinnerung: Er hatte ihn belogen.
Skar wußte nicht, wer ihn belogen hatte, geschweige denn wie. Trotzdem war dieses Wissen ganz deutlich in ihm, wie etwas von so großer Wichtigkeit, daß es sich unauslöschlich in sein Bewußtsein eingegraben hatte. Das waren drei Tatsachen, die er wußte: Es war still, jemand hatte ihn belogen, und er war nicht allein.
Aber wenn jemand bei ihm war, warum hörte er dann nichts? Er verscheuchte den Gedanken, entspannte sich ganz bewußt und versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen. Es tat ein bißchen weh, aber nicht sehr, und dann konnte er sehen.
Im ersten Moment.
Dann kam die Übelkeit, warnungslos und hart wie ein Schlag in die Magengrube und so schnell, daß er gerade noch Zeit fand, sich zur Seite zu drehen, ehe er sich übergab; würgend und von krampfartigen, immer schneller kommenden Schmerzen gepeinigt. Das Stechen in seinem Nacken steigerte sich zur Raserei. Er schrie, verschluckte sich an seinem eigenen Erbrochenen und hatte für Sekunden das entsetzliche Gefühl, ersticken zu müssen. Bittere Galle lief in seinen Rachen, und der Geschmack verstärkte die Übelkeit noch.
Dann, so plötzlich, wie sie gekommen waren, ebbten Schmerzen und Übelkeit wieder ab. Skar ließ sich zurücksinken, hielt sekundenlang den Atem an und wartete darauf, daß seine Eingeweide abermals zu revoltieren begannen. Aber es geschah nicht. So lange er ruhig lag, fühlte er nichts.
Der Trank, dachte er. Der Gedanke stand völlig isoliert in seinem Bewußtsein, wie ein Wort, das man auf ein weißes Blatt Papier geschrieben hatte.
Erst jetzt merkte er, daß er keine Erinnerungen hatte. Dort, wo sie sein sollten, gähnte eine entsetzliche Leere.
Es war nicht etwa so, daß er das Gedächtnis verloren hätte. Sein Bewußtsein war nicht leer. Alles war da, säuberlich geordnet und aufgereiht wie in großen, schon ein bißchen staubig gewordenen Regalen, aber jedesmal, wenn er versuchte, nach einem Teil seiner Erinnerungen zu greifen, war da etwas, das seine Hand beiseite schlug.
Nein, korrigierte er sich in Gedanken. Auch das war nicht richtig. Er...
Zum Teufel, es war, als hätte er verlernt, wie man sich erinnerte!
Aber konnte ein Mensch das Denken verlernen?
Skar stöhnte. Der Laut hallte gebrochen und sonderbar dumpf von den Wänden zurück. Das Echo verriet ihm, daß er sich in einem sehr großen Raum befand; und in einem, der beinahe leer sein mußte.
Der Tempel. Wieder ein Wort, um das leere Blatt zu füllen. Die Gesichtslosen Prediger. Der Namenlose Gott, die... Es ging schnell, jetzt. Wie Wasser, das sich beharrlich seinen Weg durch ein Hindernis gräbt, sickerten die Erinnerungen in sein Bewußtsein zurück, ein dünnes, tröpfelndes Rinnsal scheinbar zusammenhangloser Begriffe zuerst, das aber rasch zu einem Bach, dann zu einem reißenden Strom wurde. Es war, als hätte es allein der Erkenntnis bedurft, daß er sich nicht erinnerte, um die Erinnerungen zurückzuholen. Die Türen in seinem Geist waren nicht verschlossen. Er hatte nur vergessen, wie man sie öffnete, und jetzt, als er es wieder wußte, war es wie ein Sturmwind, der sie alle gleichzeitig aufstieß.
Skar lag still, bewegte sich nicht, atmete flach und gleichmäßig und versuchte an nichts zu denken. Er versuchte nicht, die Erinnerungen zu greifen, einen Zusammenhang herzustellen, sondern wartete, bis sich Bilder und Namen zu einem Ganzen formten. Er sah... Dinge. Den Dronte. Gowenna. Del, der nicht Del war, und Helth, der sich in ein Ungeheuer verwandelt hatte. Feuer. Überall Feuer. Der Daij-Djan. Die Sternenbestie... Skar stöhnte, als die Erinnerungen allmählich die Intensität von Schmerzen erreichten. Da war irgend etwas in ihm, das sich dagegen aufbäumte; ein Teil seines Bewußtseins, das sich nicht erinnern wollte, weil es Angst davor hatte. Angst vor dem, was aus den Abgründen seiner Seele emporsteigen mochte, was... Sein dunkler Bruder. Ausgelöscht. Fort. Und dann: DAS KIND!
Der Prediger hatte ihn belogen. Er hatte gesagt, es würde nicht weh tun, und er hatte gesagt, daß sie ihn beschützen würden, aber es hatte weh getan, ganz entsetzlich weh sogar, und wenn das, was sie getan hatten, Schutz sein sollte, dann verstanden sie herzlich wenig von ihrem Handwerk.
Skar erinnerte sich noch nicht an alles: es war da, aber die Reihenfolge stimmte nicht. Was er in seinem Kopf fand, waren Teile eines zerbrochenen Glasbildes, wild durcheinandergewürfelt und mit scharfen Kanten, an denen er sich schnitt, wenn er versuchte, sie zu ordnen. Aber er wußte jetzt, daß er sehr lange geschlafen hatte, und nicht traumlos. Etwas Fürchterliches war geschehen in dieser Zeit, und was immer es gewesen sein mochte, es war die Hölle.
Skar versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Ganz instinktiv spannte er sich, denn er rechnete damit, daß das Licht die Übelkeit und die Schmerzen zurückbringen würde. Aber es geschah nichts. Ein ganz kleines bißchen wurde ihm schwindelig, aber das war vermutlich normal, nach all der Zeit, die er geschlafen hatte. Er wußte jetzt, daß es Tage gewesen sein mußten. Vielleicht Wochen.
Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war, in diesen Raum - wie beinahe alles hier unten ein schmuckloser steinerner Würfel, aber anders als die Kammer des Predigers von geradezu gigantischen Ausmaßen. Seine Augen funktionierten noch nicht richtig, so daß es ihm unmöglich war, die Höhe der steinernen Decke zu schätzen, die sich wie ein Himmel aus grauem Fels über ihm spannte - aber der Raum mußte gewaltig sein. Obwohl er nirgendwo eine Lichtquelle entdecken konnte, war es nicht dunkeclass="underline" Ein sonderbarer, fast unheimlicher grün-grauer Glanz hing im Raum, aus keiner bestimmten Richtung kommend, sondern allgegenwärtig, als bringe etwas die Luft selbst zum Glühen. Schatten waren da, die ihm irgendwie nicht richtig erschienen: wie die Schatten von Dingen, die es gar nicht gab.
Und er war eindeutig allein.
Vorsichtig setzte Skar sich auf. Er war nicht auf einem Bett erwacht, sondern auf einem gewaltigen, monolithisch anmutenden Block aus nachtschwarzem Basalt, der ihn auf sehr unbehagliche Weise an einen Altar (er konnte gerade noch verhindern, in Gedanken das Wort Opferstein zu verwenden) erinnerte. Er war nackt, das merkte er erst jetzt, und der Stein war empfindlich kalt, wo er nicht von seinem Körper erwärmt worden war. Skar schauderte. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Unterarmen und seinem Rücken aus. Er widerstand im letzten Moment der Versuchung, seinen Bizeps mit den Händen zu massieren, um sich selbst aufzuwärmen. Er hatte das sichere Gefühl, daß er für jede hastige Bewegung bitter bezahlen würde.