Was immer ihn getötet hatte, war noch in der Nähe!
Skars Herz kam mit einem schmerzhaften Ruck aus dem Takt und schlug ungleichmäßig und so heftig weiter, daß er glaubte, sein dumpfes Pochen müsse noch in hundert Schritt Entfernung zu hören sein. Er fuhr herum, hob sein Schwert und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Der Schnee breitete sich glatt und unberührt auf dem Ufer aus, sah man von seinen eigenen und den Spuren des Quorrl ab. Keine Spuren, dachte Skar hysterisch. Keine Spuren. Was den Quorrl umgebracht hatte, hatte keine Spuren hinterlassen!
Und plötzlich war er sicher, eine Bewegung in der Dunkelheit zu erkennen. Irgend etwas, das zugleich klein wie gewaltig, zugleich unsichtbar wie unübersehbar war, umschlich ihn. Etwas, das...
Skar begriff, daß er dicht davor war, wirklich in Panik zu geraten. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe, kämpfte die aufkeimende Panik nieder und konzentrierte sich, bis es ihm gelang, sein Herz wieder in den gewohnten Rhythmus zu zwingen, seinen Atem zu beruhigen und das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Es gab eine Erklärung, dachte er. Es mußte eine natürliche Erklärung geben - er wußte nicht welche, und er wagte sich nicht einmal vorzustellen, wie ein Wesen aussehen mochte, daß so etwas anrichten konnte, ohne einen Laut zu verursachen oder auch nur die mindeste Spur zu hinterlassen, aber es würde eine Erklärung geben, auch wenn er sie nicht fand. Es war nicht das erste Mal, daß er sich Dingen gegenübersah, die andere mit dem Wort Zauberei bedacht hätten. Es wurde eine Erklärung geben. Keine Spuren.
Auf der anderen Seite des Hügels erscholl eine gellender Schrei, so hoch und schrill und spitz, so unmenschlich, so sehr voller Qual und unsagbarem Grauen, daß Skar für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte.
Das Pferd neben ihm scheute. Der tote Quorrl kam aus dem Gleichgewicht, rutschte mit einem widerwärtig weichen Laut über den Pferdehals und fiel wie eine stürzender Fels zu Boden. Skar sprang im letzten Moment zur Seite; trotzdem streifte ihn einer der lose pendelnden Arme des Kolosses und schleuderte ihn zu Boden.
Als er sich aus dem lockeren Schnee hochstemmte, war der Schrei verstummt. Dafür hörte er jetzt andere, auf schreckliche Weise vertrautere Geräusche: Schreie, das Trappeln hastiger Schritte, das schrille Wiehern von Pferden, das dumpfe Krachen von Stahl, der auf Widerstand schlug - Kampflärm!
Skar sprang vollends auf, streifte noch in der gleichen Bewegung seinen Mantel ab und hetzte mit fünf, sechs weit ausgreifenden Schritten über die Hügelkuppe, wobei er bei jedem Schritt bis fast über die Knie im Schnee einsank, so daß er trotzdem nicht nennenswert schneller von der Stelle kam.
Dann lag das Lager der Quorrl unter ihm. Und Skar blieb abermals stehen.
Der Lärm hatte ihm verraten, daß die Quorrl kämpften, und er hatte ihm noch mehr verraten - nämlich daß es auf keinen Fall Enwass und seine Leute waren, die vielleicht auf unbegreifliche Weise an ihm vorbeigerudert sein mochten und über die Quorrl herfielen, sondern ein Feind, der den Fischgesichtern ebenbürtig sein mußte.
Aber er hatte ihn nicht auf das vorbereitet, was er nun wirklich sah: Es mußten an die zwei Dutzend Quorrl sein, die Trash gefolgt waren, um ihm und den Flüchtlingen aufzulauern, aber die Hälfte von ihnen war tot oder lag im Sterben, und der Rest befand sich auf einer verzweifelten Flucht - ein paar versuchten die Pferde zu erreichen, die ein Stück weit nördlich angebunden waren, zwei oder drei waren auf das Eis des Flusses hinausgewichen, und einer stürmte in direkter Linie auf Skar zu, den Hügel hinauf.
Etwas verfolgte ihn.
Skar konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es schien ihm zu klein und zu schnell für einen Menschen, und es löste - obwohl er nicht einmal genau erkennen konnte, was es war - ein entsetzliches Gefühl des Wiedererkennens in Skar aus. Es war - Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und ließ sich instinktiv fallen, und dieser blinde Reflex rettete ihm das Leben. Trashs Axt fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Schnee, ganz genau dort, wo er vor einer halben Sekunde noch gestanden hatte, kam mit einer ungeheuer schnellen, kraftvollen Drehung wieder hoch und zischte nun waagrecht durch die Luft, genau in der Höhe, in der sich sein Kopf befunden hätte, hätte er versucht, aufzustehen.
Aber Skar versuchte es nicht. Statt dessen rollte er sich herum, zog die Knie an den Leib und stieß dem Quorrl beide Füße gegen die Knie. Er legte alle Kraft in diesen Stoß, und sein kaum verheiltes Fußgelenk quittierte diese Bewegung mit wütenden Schmerzen. Trotzdem reichte der Tritt nicht, den Giganten zu Boden zu schleudern, oder ihm auch nur wirklich weh zu tun. Aber Trash strauchelte. Sein nächster Axthieb verfehlte Skar abermals, und als er die Waffe diesmal wieder hochbekam, war Skar bereits auf den Füßen und zwei, drei Schritte zurückgewichen.
»Du!« brüllte Trash mit vor Wut überschnappender Stimme. »Du hast sie geholt! Du!«
Skar sprang blitzschnell zurück, als der Quorrl abermals seine gewaltige Waffe schwang. Er versuchte den Hieb mit dem Tschekal zu parieren, aber er traf nicht richtig - die Klinge prallte mit der Breitseite gegen Trashs Waffe; statt ihren Stiel zu zerschneiden, wurde das Schwert Skar fast aus der Hand geprellt. Er strauchelte, wich ungeschickt zwei, drei Schritte weiter vor dem Quorrl zurück und spürte plötzlich keinen Widerstand mehr: Er hatte die Böschung erreicht. Hinter ihm war jetzt nichts mehr als ein zehn Meter tiefer Abgrund, und darunter das beinharte Eis des Flusses.
Trash schrie triumphierend auf, als er sah, daß er sein Opfer in der Falle hatte, schwang seine Waffe und stürmte brüllend heran. Skar spannte sich, um den erwarteten Anprall so gut wie möglich aufzufangen.
Er kam nicht.
Wieder konnte Skar nicht wirklich erkennen, was geschah: Es war, als wäre da plötzlich ein unsichtbarer Vorhang, ein Schleier aus Schwärze, der verhinderte, daß er wirklich etwas erkannte. Vielleicht ging es auch einfach nur zu schnell - aber mit einem Male war etwas da, das vorher noch nicht dagewesen war, etwas Kleines und Schwarzes, von der Dunkelheit hinter dem Quorrl ausgespien wie ein böser Spuk, eine glitzernde, insektoide Scheußlichkeit, nicht viel größer als ein Kind, aber mit den Kräften eines Giganten, das Trash ansprang und herumriß. Eine hornige Kralle blitzte, und mit einem Male wurde aus Trashs Wutgebrüll ein gellender Schmerzensschrei. Der Quorrl taumelte, stolperte ungeschickt zwei, drei Schritte rücklings den Hang hinab und fiel auf die Knie. Sein Arm, der die Axt gehalten hatte, war nur noch ein blutender Stumpf, von der entsetzlichen Klaue dicht unterhalb des Ellbogengelenks abgerissen. Dunkles Quorrl-Blut sprudelte in den Schnee. Trash schrie. Das schwarze Etwas folgte ihm.
Und dann erkannte Skar, was es war...
Irgend etwas in ihm schien zu zerbrechen, als er das kleine, schwarzglitzernde Ding sah, für einen endlosen Moment so deutlich, als stünde es im hellen Sonnenlicht: ein schwarzes namenloses Etwas, augenlos und klein, ein Ding, das nicht lebte, aber tötete, und zu keinem anderen Zweck erschaffen war: der Daij-Djan.
Skar schrie gellend auf, riß sein Schwert in die Höhe und sprang. Es war nicht mehr sein bewußtes Denken, das die Bewegung lenkte, nicht einmal mehr seine Satai-Reflexe, sondern ein Instinkt, ein Etwas, das so alt wie die menschliche Rasse, vielleicht das Leben an sich war: das absolute Wissen, dem Erzfeind gegenüberzustehen, dem unerbittlichen Feind allen Lebens, allem, was dachte und fühlte. Vielleicht dem Bösen an sich. Mit einem einzigen Satz war er bei dem Gestürzten und der schwarzen Spottgeburt, prallte auf, federte hoch und herum und trat zu, mit der ganzen, ungeheuren Wucht seines Sprunges. Es war, als hätte er gegen Stahl getreten.