Skar verscheuchte den Gedanken. Es spielte keine Rolle, ob es vierzig Quorrl waren oder vierzigtausend oder vier Millionen. Er war nicht hier, um mit ihnen zu kämpfen.
Mit einem sanften Schenkeldruck brachte er die Daktyle dazu, ein wenig nach links zu schwenken und gleichzeitig an Höhe zu verlieren. Er näherte sich dem Lager schnell, und er wußte, daß die Gefahr groß war, entdeckt zu werden. Obwohl sie in mehreren Meilen Höhe dahinschossen, mußte der Umriß des gigantischen Flugdrachens deutlich vor den Wolken auszumachen sein. Aber der Anblick einer wilden Daktyle war hier, so weit im Norden und nahe dem Tal der Drachen, vielleicht nicht alltäglich, andererseits aber auch nicht so ungewöhnlich, daß er ausgereicht hätte, unten im Lager Alarm auszulösen. Sie würden den Drachen sehen. Ihn nicht.
Das Meer aus Licht wuchs heran, erfüllte die Welt unter ihm plötzlich vollkommen und wuchs weiter. Skar beugte sich im Sattel des Drachen vor, so weit er konnte. Sein Blick tastete über das Gewirr von Lichtern und kleinen, schmutzigweißen Zelten, die sich wie sonderbar rechteckige Flecken von Schnee in der Nacht abhoben, suchte nach einem Muster, irgendeinem System, einer Unregelmäßigkeit.
Er fand keine. Seine Hoffnung, das Zelt der Satai schon aus der Luft zu entdecken, erfüllte sich nicht. Er war zu hoch, zu hoch und zu schnell, um Einzelheiten auszumachen. Und er konnte nicht riskieren, noch tiefer hinabzustoßen. Mit einem Gefühl plötzlichen Schreckens erinnerte er sich an Drasks Warnung: Er hatte nur eine einzige Chance. Ging er zu tief, würde die Daktyle landen - und seine Zuversicht reichte nicht weit genug, sich einzureden, die Quorrl würden einem Satai, der mitten in ihrem Lager vom Himmel fiel, nicht mehr als einen flüchtigen Blick schenken.
Rasch bewegte er die Daktyle dazu, wieder in die Höhe zu steigen, flog einen Kreis in umgekehrter Richtung und hielt schließlich auf das südliche Ende des Lagers zu. Es wäre sicherer gewesen, in den Bergen zu landen und die zwei oder drei Stunden Dunkelheit, die die Nacht noch barg, auszunutzen, um sich anzuschleichen. Aber es gab zwei Punkte, die dagegen sprachen: Selbst ein Satai, der aus den Bergen kam, die an dieser Stelle als unübersteigbar galten, würde Mißtrauen erregen. Und er war sich nicht sicher, ob ihm noch genug Zeit blieb. Die zwei Stunden, von denen Drask gesprochen hatte, waren längst vorbei. Die Daktyle machte noch keine Anstalten, sich seinem Willen zu widersetzen, aber die erste Warnung mochte zugleich die letzte sein. So überflog er das Lager in großer Höhe, lenkte das Tier mehrere Meilen weit in die Wüste hinaus und kehrte dann in einem weit geschwungenen Bogen zurück, wobei er die Daktyle sanft, aber beständig an Höhe verlieren ließ. Er war sicher, daß er gesehen worden war, und wahrscheinlich suchten gerade jetzt Hunderte, wenn nicht Tausende starrer Fischaugen den Himmel ab. Er konnte es nicht riskieren, sich bei der Landung beobachten zu lassen.
Aber er hatte auch nicht die Zeit für einen vielleicht stundenlangen Fußmarsch. Skar entschloß sich zu einem sehr gewagten Manöver, das ihm entweder einen gebrochenen Hals oder zwei oder mehr gewonnene Stunden einbringen würde: bei seinem Überflug hatte er gesehen, daß das Lager von einer ungleichmäßigen Reihe hoher Sanddünen begrenzt wurde, die sich wie eine natürliche Wehrmauer zwischen ihm und der Wüste erhoben. Behutsam ließ er die Daktyle tiefer gehen, jederzeit bereit, sie wieder aufsteigen zu lassen, sollte sie etwa Anstalten machen, an dieser Stelle zu landen.
Aber seine Rechnung ging auf. Der Drachenvogel stand noch immer unter Drasks geistigem Bann, denn er vollführte gehorsam jede Bewegung, die Skar von ihm verlangte. Aber seine Instinkte waren stark genug, ihm zu sagen, daß er nie wieder starten konnte, wenn er hier zu Boden ging. Daktylen waren phantastische Flieger, aber sie brauchten Klippen oder zumindest sehr hohe Felsen, um überhaupt in die Luft zu kommen. Eine Landung auf dem flachen Land bedeutete den fast sicheren Tod, denn so schnell und gefährlich die Tiere in der Luft waren, so hilflos waren sie am Boden, trotz ihrer gewaltigen Größe. Skars Daktyle glitt mit weit ausgebreiteten Schwingen über die Wüste dahin, sehr viel langsamer als bisher, dabei aber noch immer dreimal so schnell wie ein galoppierendes Pferd. Ihre Schwingen berührten fast den Boden, und Skar spürte die Furcht und Nervosität des Tieres. Trotzdem zwang er es dazu, langsamer zu werden. Unter ihm war weicher Sand, aber er war zu schnell.
Die Daktyle begann zu bocken. Für einen Moment versuchte sie wieder an Höhe zu gewinnen. Ihr Schädel ruckte nervös hin und her; kleine, fast ängstliche Schreie drangen aus ihrem schrecklichen Schnabel. Trotzdem glitt sie gehorsam wieder hinab, als Skar die Schenkel zusammenpreßte.
221 Er war jetzt nicht mehr sehr weit vom Lager entfernt; gleichzeitig spürte er, daß er das Tempo des Tieres nicht noch weiter drosseln konnte, ohne daß es den Halt in der Luft verlor und zu Boden stürzte.
Skar löste die Füße aus den Steigbügeln, atmete tief ein - und ließ sich aus dem Sattel fallen. Eine der gewaltigen schwarzen Drachenschwingen streifte ihn; ganz flüchtig nur, aber die Berührung war trotzdem stark genug, ihn in der Luft herumzuwirbeln und hilflos davonsegeln zu lassen.
Der Aufprall war überraschend sanft. Der weiche Sand, in den er fiel, dämpfte seinen Sturz, und er hatte sich ganz instinktiv zu einem Ball zusammengerollt, so daß er sich zwar zwanzig-, dreißigmal überschlug, ehe er endgültig zur Ruhe kam, sich aber nicht ernsthaft verletzte.
Sein erster Blick galt der Daktyle.
Der Drache war schon erstaunlich weit entfernt, aber seine gewaltige Größe ließ ihn Skar trotzdem deutlich erkennen. Der fliegende Riese taumelte. Seine Schwingen peitschten in heller Panik die Luft, berührten dabei den Boden, so daß Staub und Sand und pulverfeiner Schnee hochstoben. Für einen kurzen, schreckerfüllten Moment fürchtete Skar, er würde abstürzen. Aber dann entschied die ungeheure Körperkraft des Tieres den lautlosen Kampf. Mit einer ungeheuerlichen Anstrengung stemmte sich die Daktyle in die Höhe, warf sich herum - und schoß mit einem erleichterten Schrei in den Himmel empor. Skar atmete hörbar auf. Er war dem Lager so nahe, daß die Daktyle mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben war. Wäre sie hinter den Dünen verschwunden, ohne wieder aufzutauchen, hätte es hier in Minuten von Quorrl gewimmelt...
Er stand auf, sah sich sichernd nach allen Richtungen um und untersuchte seinen Körper dann auf Verletzungen. Er fand nichts, bis auf ein paar Kratzer und Abschürfungen, die er getrost vernachlässigen konnte. Selbst sein gerade erst geheilter Knöchel hatte den Sturz unbeschadet überstanden. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten schien das Glück wieder auf seiner Seite zu sein.
Rasch entledigte sich Skar seines Fellumhanges, ordnete noch einmal seine Kleider und strich glättend über den knöchellangen Satai-Mantel. Dann überzeugte er sich ohne irgendwelche Hast vom sicheren Sitz seiner Waffen, schüttelte sich Schnee und Sand aus den Haaren und wandte sich nach Norden, in die Richtung, in der die Lichter hinter den Dünen glommen. Es war nicht mehr sehr weit.
21.
Wieder einmal hatte er sich verschätzt. Es dauerte annähernd eine Stunde, bis er das Lager erreicht und durchquert hatte, denn der ersten Dünenkette schloß sich eine zweite an, eine dritte, vierte, fünfte und so weiter - die klare Luft über der halbverschneiten Wüste und die Dunkelheit hatten ihm eine Entfernung von einer halben Meile vorgegaukelt, wo zwei oder drei waren. Und schließlich verlor er noch einmal kostbare Zeit, als er sich eng gegen den Sand pressen mußte, um nicht von einer Quorrl-Patrouiile entdeckt zu werden, der er um ein Haar in die Arme gelaufen wäre. Obwohl das Heer mitten in dem von ihm besetzten Gebiet lagerte und der nächste Feind hundert Meilen entfernt war, waren die Quorrl wachsam. Als er das Lager schließlich durchquert hatte und das halbe Dutzend schwarzgolden gemusterter Zelte der Satai vor ihm lag, zeigte sich am Horizont bereits der erste graue Schimmer der Dämmerung.