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Für die Dauer von drei, vier endlosen Herzschlägen blieb er reglos stehen und lauschte, jeden Sekundenbruchteil darauf gefaßt, Lärmen und Schreie zu hören.

Aber nichts geschah. So unglaublich es ihm selbst erschien - niemand hatte etwas gehört. Das Schicksal gab ihm noch eine letzte Chance.

Skar widerstand der Versuchung, den toten Wächter einfach liegen zu lassen, sondern hob ihn vorsichtig hoch, wandte sich um und trug ihn hinter die Felsen, hinter denen er selbst vor Augenblicken Deckung gesucht hatte. Dann ging er zurück, hob auch den zweiten Wächter auf die Arme und legte ihn neben seinen toten Kameraden. Auch das Fehlen der Posten würde Alarm auslösen, aber vielleicht gewann er auf diese Weise kostbare Sekunden, die entscheiden mochten.

Unschlüssig blieb er stehen. Er wußte noch immer nicht, wo er suchen sollte - der Posten hatte versucht, das direkt hinter ihm stehende Zelt zu erreichen, wohl um Alarm zu schlagen und Verstärkung herbeizurufen, so daß er auch dies mit einiger Sicherheit ausklammern konnte, aber es blieben immer noch zwei Zelte, und wenn er das falsche wählte und sich plötzlich inmitten eines Dutzends Satai wiederfand, die bei seinem Eintreten zweifellos aufwachen würden, war alles vorbei.

Und wenn sein Sohn bei ihnen war? wisperte die Stimme in seinem Kopf. Zum ersten Mal kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja keine Ahnung hatte, nach wem er überhaupt suchte. Er hatte einen Säugling zu den Gesichtslosen Priestern gebracht, aber er war hier, um einen achtzehnjährigen Knaben zu finden, möglicherweise einen - wahrscheinlich sogar - der die Kleider eines Satai trug. Aber irgendwie würde er ihn erkennen.

Skar wählte willkürlich das linke der beiden verbliebenen Zelte aus, schlug lautlos die Plane beiseite und legte gleichzeitig die Hand auf das Schwert.

Und im gleichen Moment, in dem er das Zelt betrat, wußte er, daß es das richtige war.

Es war nicht dunkel hier drinnen. Der schwarze Stoff hatte jeden Lichtschimmer verschluckt, aber er sah jetzt, daß gleich neben dem Eingang eine kleine Öllampe brannte, die das Zelt mit einem verwirrenden Muster aus rötlichem Licht und grauer Schattenbewegung erfüllte, und viel mehr, als er sah, spürte er. Es war, als berührten eisige Finger seine Seele. Etwas war hier, die Hälfte eines zerbrochenen Ganzen, das einmal in ihm gewesen und gewaltsam getrennt worden war, etwas gleichzeitig unendlich Vertrautes wie Entsetzliches. Sein Kind. Das schreckliche Erbe, das er ihm mitgegeben hatte, ohne es zu ahnen. Es war hier. Das Erbe der Götter. Der Fluch, der sein Leben bestimmt hatte. Es war hier!

Irgendwo draußen erscholl ein Geräusch. Skar wußte nicht, was es war, aber er trat rasch vollends in das Zelt hinein, verschloß die Plane wieder und überzeugte sich sorgsam davon, daß kein verräterischer Lichtschimmer nach draußen dringen konnte; dann zog er sein Schwert, wandte sich wieder um und trat auf die schlafende Gestalt in der Mitte des Zeltes zu.

Sein Sohn war allein. Dieses Zelt gehörte offensichtlich nur ihm, was Skar bewies, daß zumindest die Satai sich seines Wertes und seiner Bedeutung durchaus bewußt waren. Ein rascher Hieb, und - Skars Hand löste sich hastig vom Griff des Tschekal, als hätte er glühendes Eisen berührt. Er konnte es nicht. Nicht so. Er mußte ihn sehen, nur ein einziges Mal sehen, in seine Augen blicken, um sich davon zu überzeugen, daß das Böse wirklich da war, von dem Drask gesprochen hatte und das er fühlte, wie eine unsichtbare knisternde Aura, in die er hineinschritt, als er sich der zusammengerollten Gestalt näherte. Schweiß erschien auf seiner Stirn. Seine Hände und Knie zitterten. Er mußte seine Augen sehen.

Wieder begann die lautlose Stimme in seinem Schädel zu flüstern, sagte ihm, daß es vielleicht ein Fehler war, daß er ihn gar nicht mehr würde töten können, wenn er ihm jetzt in die Augen sah, und daß er sogar eine Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen, wenn er nur vernünftig blieb und schnell genug war. Bisher hatte niemand ihn bemerkt, und die Berge waren nicht weit, nur ein paar hundert Schritte in nördlicher Richtung. Sie würden ihn jagen, aber es gab Verstecke dort oben, die ausgereicht hätten, eine Armee zu verbergen, und er war nicht irgendwer, sondern Skar.

Dann lächelte er. Er war gekommen, um zu sterben, nicht, um zu fliehen. So leise er konnte, näherte er sich der schlafenden Gestalt auf dem Boden, und kniete neben ihr nieder. Sein Blick streifte eine Holzkiste, die neben dem Kopfende des Schlafenden stand. Der Deckel war zurückgeklappt, so daß Skar ihren Inhalt erkennen konnte.

Es war Spielzeug - hölzerne Bausteine und Klötze, kleine Stoffpuppen und Pferde, dazu eine große Anzahl aus Holz geschnitzter, liebevoll bemalter Figuren, die Männer in Satai-Kleidern, aber auch Quorrl und Veden und andere Völker darstellten. Skar war ein wenig verwirrt - gab es Kinder hier?

Aber diese Frage war im Moment unwichtig. Er wandte sich von der Kiste ab und beugte sich vor, um das Gesicht des Jungen zu betrachten. Ein Gefühl absurder Zärtlichkeit durchflutete ihn. Er verscheuchte es.

Der Junge war sehr groß, ein Riese, der ihn fast um Haupteslänge überragen mußte, wenn er aufrecht stand. Seine Muskeln waren noch nicht voll ausgebildet, denn er hatte den Schritt zum Mann noch nicht ganz getan, aber er war schon jetzt ein Gigant, der sicherlich stärker war als Skar. Er hatte das schwarze, fast bläulich glänzende Haar aus Skars Jugend, und sein Gesicht... Skar war verwirrt. Der Knabe ähnelte ihm kein bißchen, aber er sah auch nicht seiner Mutter ähnlich; eigentlich sah er niemandem ähnlich, den Skar jemals gesehen hatte. Seine Züge waren so ebenmäßig und edel, daß es Skar im ersten Moment fast unmöglich erschien. Es war das Gesicht eines sehr starken Mannes, aber es war gleichzeitig sanft und milde... schön, dachte Skar erstaunt, auf eine mit Worten kaum zu beschreibende, unglaublich männliche Art schön.

Dann begriff er.

Es war perfekt. An dem Gesicht seines schlafenden Sohnes war kein Makel, kein Fehler, nicht die kleinste Unregelmäßigkeit. Hätte ein Gott das Urbild eines Mannes erschaffen wollen, hätte es so ausgesehen.

Er schauderte. Er hatte nie etwas so Perfektes gesehen. Und niemals etwas, das ihn gleichzeitig so erschreckte. Wenn er noch Zweifel an Drasks Worten gehabt hatte, hatte sie dieser Anblick beseitigt. Kein Mensch konnte so perfekt sein. Warum mußte sich das Böse hinter der Maske absoluter Schönheit verbergen? Wieder glitt seine Hand zum Schwert, und wieder führte er die Bewegung nicht zu Ende. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. War es schon zu spät? dachte er. Hatte der bloße Anblick, die bloße Nähe seines Sohnes schon ausgereicht, ihn seines Willens zu berauben? Ihn wieder zu dem Werkzeug zu machen, als das sie ihn schon einmal benutzt hatten? Skar stöhnte, krümmte sich wie unter Schmerzen und versuchte das Schwert zu ziehen, aber es ging nicht, er war gelähmt, starr, unfähig, sich zu bewegen. Ein schwarzer Wirbel entstand hinter seiner Stirn, wuchs und wuchs und umschlang mit rauchigen Armen seine Gedanken. Der Junge schlief weiter, aber etwas - etwas Entsetzliches, das in ihm war - spürte Skars Anwesenheit, und es wußte, warum er hier war und wehrte sich mit verzweifelter Kraft. Skar keuchte wie unter Schmerzen, schloß die Augen und versuchte, das Bild Syrrs herbeizuzwingen, ihr blutüberströmtes, erstarrtes Gesicht, den Ausdruck von ungläubigem Entsetzen und Schmerz, den er in der allerletzten Sekunde ihres Lebens darin gesehen hatte.