Sondern ?
Sondern was? dachte er wütend. Was war hier geschehen? In diesem Moment hörte er das Geräusch.
Skar fuhr hoch. Er hatte den Laut nicht bewußt wahrgenommen, aber seine Sinne waren scharf wie eh und je, und etwas in ihm reagierte, ohne daß es des Zutuns seines bewußten Denkens bedurfte.
Er sah einen Schatten aus den Augenwinkeln, ließ sich blitzschnell zur Seite fallen und rollte hinter den niedrigen Steinquader, der dem Prediger als Tisch gedient hatte. Dann schnellte er wieder in die Höhe, kampfbereit, mit leicht gespreizten Beinen, die Linke zur Faust geballt und vor dem Leib, die rechte Hand leicht gespreizt und in Höhe seines Kehlkopfes haltend.
Im nächsten Moment kam er sich so albern vor wie schon seit langer Zeit nicht mehr.
Seine Sinne hatten ihn nicht getrogen - er hatte Schritte gehört, und er hatte eine Bewegung in seinem Rücken wahrgenommen. Aber es war kein Angreifer, der sich heimlich anschlich.
Hinter ihm stand ein schwarzhaariger Knabe von allerhöchstens acht Jahren, der ihn schreckensbleich und aus Augen anstarrte, die weit und dunkel vor Furcht waren. Seine Hände zitterten, und sein Mund stand ein wenig offen, als wolle er schreien. Trotzdem kam kein Laut über seine Lippen. Er starrte Skar nur an, mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung, wie sie Skar selten im Blick eines Menschen gesehen hatte. Seine kleinen Hände umklammerten einen Stock, ganz in der Art, in der ein Mann ein Schwert hielt, aber sie zitterten, und Skar sah die dunklen Linien in seinem Gesicht, die Furcht und Erschöpfung hineingegraben hatten. Skar sah auch, daß seine Knöchel und Knie blutig waren. Über seiner rechten Schläfe prangte eine große, erst halb verschorfte Wunde, und sein rechtes Bein war verbunden, mit mehr gutem Willen als Sachkenntnis. Sein Gewand, das mehr einem schmutzigen Sack glich als einem Kleid, klebte in dunklen Flecken an seiner Haut. Sein Atem ging sehr schnell. Er war gerannt.
Skar ließ langsam die Hände sinken, entspannte sich ein wenig und versuchte zu lächeln. Er selbst hatte den Eindruck, daß es ihm gelang, aber die Reaktion des Knaben bewies das Gegenteiclass="underline" Der schwache Funke von Erleichterung in seinem Blick erlosch und machte jäh aufflammender Panik Platz. Und plötzlich schrie er doch: hoch und schrill und so spitz, daß Skar abermals erschrocken zusammenfuhr und unwillkürlich einen Schritt auf ihn zutrat.
»Warte!« sagte Skar hastig. »Ich -«
Der Junge wirbelte herum und rannte aus der Kammer, ehe er auch nur aussprechen konnte.
»Heda!« schrie Skar. »So bleib doch stehen! Ich tue dir doch nichts!«
Natürlich reagierte der Junge nicht. Im Gegenteil - Skar sah, wie er erschrocken über die Schulter zu ihm zurücksah und noch schneller lief, dann war er ganz aus der Kammer heraus und im Halbdunkel des Ganges verschwunden.
Skar schluckte einen Fluch herunter, sprang mit einem Satz über den Tisch und rannte hinter dem Jungen her, wobei er ihm unentwegt zuschrie, doch stehenzubleiben. Aber die einzige Antwort, die er bekam, war das verzerrte Echo seiner eigenen Stimme.
Der Junge hatte bereits einen gehörigen Vorsprung, als Skar aus der Kammer stürmte - er sah gerade noch einen Zipfel seines zerrissenen Gewandes in einem Seitengang verschwinden, dann war nicht einmal mehr das Echo seiner Schritte zu hören. Skar hörte auf, nach dem Jungen zu rufen, und sparte sich seinen Atem dafür, rascher zu laufen. Der Junge war nicht sehr schnell, obwohl ihm die Angst zusätzliche Kräfte verleihen mußte, aber Skars Herz begann bereits nach wenigen Schritten schnell und hart zu hämmern, und in seiner Kehle erwachte ein dünner, stechender Schmerz. Er war wahrlich nicht sehr gut in Form.
Trotzdem verdoppelte er seine Anstrengungen, ihn einzuholen, bog mit gesenktem Kopf in den Seitengang ein und sah den Jungen plötzlich dreißig, vierzig Schritte vor sich.
»Zum Teufel - bleib endlich stehen!« schrie er. »Ich will nichts von dir! Nur deine Hilfe!«
Und tatsächlich blieb der Junge stehen und sah zu ihm zurück, wenn auch nur für einen Moment - dann wirbelte er abermals herum und verschwand in einer Tür. Skar fluchte ungehemmt, griff noch weiter aus und versuchte das Stechen in seinen Lungen zu ignorieren. Wenn er den Jungen in diesem Labyrinth von Gängen und Treppenfluchten aus dem Auge verlor, hatte er keine Chance mehr, ihn einzuholen. Der Tempel war groß genug, eine Armee zu verstecken. Kaum drei Schritte hinter ihm stürmte er durch die niedrige Tür.
Er sah die Bewegung im letzten Augenblick, aber diesmal kam seine Reaktion zu spät. Skar versuchte sich herumzuwerfen und gleichzeitig die Arme in die Höhe zu reißen, aber er war zu langsam. Etwas traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlages im Gesicht und schleuderte ihn zu Boden.
Er fiel, versuchte den Sturz ungeschickt mit Händen und Knien abzufangen und prallte schmerzhaft mit der Schläfe gegen die Wand. Kreise aus blutrotem Schmerz drehten sich vor seinen Augen. Er spürte, wie seine Arme unter seinem Körpergewicht nachgaben, prallte mit dem Gesicht gegen den harten Boden und stöhnte ein zweites Mal vor Schmerz. Er konnte nicht mehr richtig sehen. Schatten umtanzten ihn. Er hörte Schritte, dann einen überraschten, hellen Schrei - nicht den einer Kinderstimme - versuchte den Kopf zu heben und fühlte die Gefahr noch, dann traf ihn ein zweiter, sehr viel härterer Schlag gegen den Unterkiefer. Skar schrie vor Schmerz auf, riß ganz instinktiv die Arme über den Kopf und spürte, wie er irgend etwas traf, das unter seinem Hieb zurücktaumelte. Ein neuerlicher Schrei erscholl, gleichzeitig voller Wut und Schmerz, und dicht neben ihm stürzte ein Körper schwer zu Boden.
Skar wälzte sich stöhnend auf den Rücken, blinzelte die grellen Schmerzblitze vor seinen Augen fort und richtete sich auf. Auf seiner Zunge war Blut, sehr viel Blut, und Schmerz lähmte seine gesamte rechte Gesichtshälfte. Mühsam rappelte er sich hoch, spuckte Blut, ein Stück eines abgebrochenen Zahnes und noch mehr Blut und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Beweg dich nicht!« sagte eine Stimme neben ihm. »Bleib, wo du bist, oder ich schlage dir den Schädel ein!«
Skar sah mühsam auf. In seinem Kopf drehte sich alles. Ihm war übel und schwindelig zugleich, und der Schmerz in seinem Kiefer wurde fast unerträglich. Er wäre nicht einmal in der Lage gewesen, sich zu wehren, wenn er es gewollt hätte. Und er konnte noch immer nicht richtig sehen. Vor seinen Augen wogten blutige Schatten.
Mühsam richtete er sich weiter auf, sah einen der Schatten sich bewegen und fuhr erschrocken zusammen. Der Schlag, auf den er wartete, kam nicht, aber die Stimme wiederholte ihre Warnung, sich nicht zu bewegen.
Skar spürte kalten Stein im Rücken, ließ sich gegen die Wand sinken und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er fühlte Blut, das aus seiner aufgeplatzten Lippe quoll, und einen raschen, stechenden Schmerz.
Als er die Hände herunternahm, geronnen die Schatten vor seinem Blick zu den Umrissen zweier Menschen. Der eine war der Junge, den er verfolgt hatte. Er stand mit gespreizten Beinen da, den Stock, an dem jetzt Blut klebte, mit beiden Fäusten umklammernd und zitternd vor Angst, aber gleichzeitig auch sehr entschlossen.
Der andere war der einer Frau, und sie war es auch gewesen, die ihn vollends niedergeschlagen hatte, eine Frau von allerhöchstens fünfundzwanzig Jahren. Sie hockte vor ihm, halb auf ein Knie erhoben, und in ihren Augen stand die gleiche panische Angst, die er schon in denen des Jungen gelesen hatte. Ihre rechte Hand umklammerte den faustgroßen, kantigen Stein, den sie ihm ins Gesicht geschlagen hatte.
Skar versuchte etwas zu sagen, aber es ging erst, nachdem er einen weiteren Mundvoll Blut ausgespien hatte. Stöhnend hob er die Hand, fuhr sich über Kinn und Lippen und machte Anstalten, sich vollends zu erheben. Sofort hob die Frau den Stein drohend höher, und Skar erstarrte wieder. Aber er sah auch, daß ihre Hand zitterte. Der Ausdruck auf ihren Zügen war Panik, nicht Wildheit.