»Ich bin bereit«, sagte Bradburn. Er kam näher, beugte sich über das Lager aus Fellen, auf das sie Skar gebettet hatten, und lächelte milde. »Verstehst du mich?« fragte er.
Skar nickte. Er lag auf dem Rücken, nur eine Handbreit neben dem Leichnam Croyds, und allein der Gedanke an das, was Bradburn tun würde, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. »Ja«, sagte er. »Was... hast du... vor?«
Er wußte es, aber für einen Moment klammerte er sich an die absurde Hoffnung, daß der Alte etwas anderes sagen würde. »Einen letzten, verzweifelten Versuch, Skar«, antwortete Bradburn ernst. »Vielleicht wirst du dabei sterben, aber wenn, dann ist ohnehin alles zu spät.« Er lächelte bitter. »Wenn es das nicht schon ist.«
»Aber ich... ich verstehe nicht...«
Bradburn unterbrach ihn mit einer gleichermaßen sanften wie ungeduldigen Handbewegung. »Später«, sagte er. »Später wirst du alles erfahren. Nicht jetzt.« Er schwieg einen Moment, dann: »Hier - trink das.«
Der Kreis schloß sich, dachte Skar, während der Alte behutsam eine hölzerne Schale mit einer bitter schmeckenden Flüssigkeit an seine Lippen setzte. Aber er wehrte sich nicht, sondern trank, bis nichts mehr von der Flüssigkeit übrig war und Bradburn die Schale senkte. Der Kreis schloß sich. Es endete, wie es begonnen hatte. Diesmal vielleicht für immer.
»Sai zu Sai«, flüsterte Bradburn. »Tan zu Tan. Was getrennt wurde, soll eins werden. Was...«
Skar hörte nicht mehr hin. Bradburn fuhr fort, monoton seine Beschwörungsformel zu murmeln, Mächte einer Magie zu entfesseln, an die Skar noch immer nicht glaubte, obwohl er ihr Wirken auf entsetzliche Weise am eigenen Leib verspürt hatte, aber während er dalag, der einlullenden Stimme des Predigers lauschte und auf das vertraute Brennen im Hals und den Schmerz wartete, dachte er noch einmal an das, was ihm Del erzählt hatte, während Bradburn mit seinen Vorbereitungen beschäftigt war. Er fragte sich, warum er nicht einfach den Verstand verloren hatte, jetzt, als er die Wahrheit wußte. Drask hatte ihn nicht einmal in sehr vielen Punkten belogen. Alles war so geschehen, wie er von ihm, von Syrr und Enwass und all den anderen gehört hatte, nur daß es umgekehrt war: Die Sternengeborenen waren da, durch Velas Verrat und seine unfreiwillige Hilfe längst aus ihrem endlosen Schlaf geweckt, und sie hatten bereits einen großen Teil Enwors in ihre Gewalt gebracht, nicht mit dem Schwert, sondern mit den viel wirkungsvolleren Waffen der Intrige und Magie, und es waren die Satai und die Quorrl und eine Handvoll anderer, die den fast aussichtslosen Kampf gegen die Dämonen aus der Vergangenheit aufgenommen hatten. Sie - und sein Sohn, ein schwachsinniger Idiot, der trotzdem der einzige gewesen war, der ihrer Macht getrotzt hatte.
Er hatte ihn getötet. Die Macht in Croyds verwirrtem Geist war ihr einziger Schutz, seine Anwesenheit alles, was die Anderen daran hinderte, ihre ganze schreckliche Magie auszuüben und die Satai und ihr Heer vom Antlitz Enwors zu fegen. Und jetzt war er fort.
Drask, dachte er. Drask. Er hatte ihn dazu gebracht, seinen eigenen Sohn zu töten. Wenn er überlebte, wenn er noch einmal erwachte und gesund wurde, dann würde er bezahlen.
Der Schmerz begann. Etwas löste sich von ihm, und etwas anderes, Unsichtbares kroch in seine Seele. Es war kalt. Unglaublich kalt.
»Sai zu Sai«, sagte Bradburn abschließend. »Tan zu Tan. Eins soll werden, was getrennt war. Mögen die Götter uns beistehen.« Er brach ab, öffnete mühsam die Augen und sah Skar an. »Es wird gelingen, Skar«, sagte er.
»Was... hast du getan ?« flüsterte Skar. In seinem Kopf war ein dumpfes Brausen und Rauschen, das rasch stärker wurde. Zum ersten Mal im Leben spürte er ganz bewußt, wie er die Besinnung verlor.
»Das Letzte, was uns bleibt«, antwortete Del an Bradburns Stelle. Er deutete auf den Leichnam des Jungen. »Du warst es, der ihm diese Macht gab, Skar. Wir geben sie dir zurück. Wir brauchen sie. Enwor braucht sie.«
Seine Macht. Sein Erbe. Die Seele eines Toten. Skar war zu müde, um noch Entsetzen zu empfinden.
Aber während er hinüberglitt auf die andere Seite der Wirklichkeit, um sich zum letzten Mal seinem dunklen Bruder zu stellen, dachte er diesen einen Gedanken noch ganz klar, und irgendwoher wußte er auch, daß es genauso kommen würde:
Es wird gelingen. Nach all der Zeit sind wir wieder vereint - Del, ich und du, du schweigendes finsteres Ding in mir. Wir sind zusammen, und es gibt nichts, was uns gemeinsam aufhalten kann. Nichts.
Komm, Bruder.
Laß uns die Welt erobern.
Und vielleicht noch mehr.