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»Nimm den Stein herunter«, sagte er mühsam. »Ich bin nicht dein Feind!« Er stöhnte, berührte seine schmerzende Wange mit spitzen Fingern und fügte gepreßt hinzu: »Wenigstens noch nicht.«

Die Frau - nein, korrigierte sich Skar in Gedanken: das Mädchen - zögerte. Ihre Hand begann stärker zu zittern. Der Stein mußte sehr schwer sein. Und wahrscheinlich war sie halb wahnsinnig vor Angst. Aber es war die gleiche Angst, die ihr die Kraft gegeben hatte, ihn niederzuschlagen. Skar begriff plötzlich, daß er einfach Glück gehabt hatte - hätte der Stein seine Schläfe getroffen, statt seines Kiefers, wäre er jetzt wahrscheinlich tot. »Nimm den Stein herunter«, sagte er noch einmal. »Bitte.« Das Mädchen zögerte. Skar konnte den lautlosen Kampf, der hinter ihrer Stirn tobte, direkt sehen. Sie war noch immer halb wahnsinnig vor Angst, aber in ihrem Blick war auch die gleiche, vorsichtige Erleichterung zu erkennen wie zuvor in dem des Jungen. Trotzdem senkte sie den Stein nicht. »Wer... wer bist du?« stammelte sie. »Du gehörst nicht... nicht zu ihnen?«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie sind«, antwortete Skar gereizt. »Aber ich glaube nicht, daß ich dazu gehöre.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Hand, die den Stein hielt. »Wie ist es - darf ich aufstehen, oder zertrümmerst du mir den Schädel, wenn ich es versuche?«

»Glaub ihm nicht, Syrr!« sagte der Junge. Er hatte sich Skar von der anderen Seite genähert und war abermals mit gespreizten Beinen stehengeblieben. Den Stock hielt er nun wirklich wie ein Schwert. Und trotz der Angst, die in seinem Blick flackerte, schien er wild entschlossen zu sein, zuzuschlagen. Wäre der Schmerz in seinem Gesicht etwas weniger heftig gewesen, hätte der Junge ihm wahrscheinlich sogar gefallen.

»Syrr, so.« Skar richtete sich auf, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund und verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf den Jungen. »Wer ist das?« fragte er verdrossen. »Dein Sohn?«

»Mein... mein Bruder«, antwortete Syrr. Ihr Blick flackerte. Skar sah, welche Kraftanstrengung es sie kostete, den Stein weiter drohend erhoben zu halten. Ihre freie Hand spielte nervös an dem groben Strick, den sie anstelle eines Gürtels um die Taille trug. Wie die des Jungen waren ihre Hände und die nackten Arme mit einer Unzahl kleiner, zum größten Teil erst halb verheilter Kratzer und Wunden übersät.

»Und wer bist du?« fragte sie unsicher.

»Jemand, der dir und diesem Knirps da gleich eine Tracht Prügel verabreicht, wenn du nicht sofort den Stein fallen läßt«, antwortete Skar drohend. Er hatte beinahe Lust, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen, denn zu dem pochenden Schmerz in seinem Kiefer gesellte sich nun auch noch Zorn; allerdings wohl eher Zorn auf sich selbst, daß er sich von einem Knaben und einem Mädchen so hatte übertölpeln lassen.

Syrr wich erschrocken vor ihm zurück, als er auf sie zutrat, und Skar bedauerte seine groben Worte fast sofort wieder. Jetzt, als Skar ihr gegenüberstand, sah er, daß sie sehr klein war: selbst hoch aufgerichtet reichte sie ihm kaum bis zur Schulter. Sie war sehr schlank, beinahe dürr, und auf ihren Wangen lagen Schatten, die von einer überstandenen schweren Krankheit, vielleicht auch von Hunger kündeten. Ihr Haar war schwarz wie das des Jungen und unter einem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch verborgen. Und wie der Knabe trug sie ein sackähnliches, zerschlissenes Gewand und keine Schuhe.

Statt Zorn spürte Skar plötzlich beinahe Mitleid - aber nur beinahe. Der Schmerz in seinem Gesicht war ein wenig zu stark, um nicht jeden aufkeimenden Funken von Sympathie für Syrr und ihren Bruder sofort zu ersticken.

Stöhnend hob er den Arm, preßte die Hand gegen seine schmerzende Wange und musterte Syrr und den Knaben finster. Aber sein Zorn wich mehr und mehr Verwirrung - und dem unguten Gefühl, daß Syrrs verzweifelter Angriff auf ihn mehr als ein Versehen gewesen war. Die beiden mußten eine Menge mitgemacht haben, dachte er. Sie würden einen Mann wie ihn nicht aus purem Übermut angreifen, oder gar, um ihn auszuplündern. Ganz davon abgesehen, daß es bei ihm nicht sehr viel zu plündern gab...

Skar verharrte mitten im Schritt, sah an sich herab und runzelte die Stirn. »Gib mir dein Kopftuch«, verlangte er.

Syrr zögerte, aber als er die Hand ausstreckte, hob sie fast erschrocken den Arm, zog das Tuch herunter und reichte es ihm. Skar nickte dankbar, faltete es ganz auseinander und knotete es zu einem primitiven Lendenschurz zusammen. Erst danach wandte er sich wieder an das Mädchen.

»Also«, begann er, noch immer in scharfem Ton, aber lange nicht mehr so grob wie bisher. »Wer seid ihr, und was soll das, mich hinterrücks niederzuschlagen?«

Syrr antwortete nicht. Ihr Blick glitt über seine Gestalt, blieb an seinem Gesicht hängen und begann unstet durch den Raum zu irren, als suche sie einen Fluchtweg. Skar spürte, wie es in ihr arbeitete. Vermutlich begriff sie allmählich, daß er wirklich nicht zu den Männern gehörte, vor denen sie und ihr Bruder solche Angst hatten. Trotzdem traute sie ihm noch nicht.

Und wie konnte sie auch? dachte er. Er hatte einen Blick wie den ihren zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was er bedeutete: der Blick eines gejagten Tieres, das so lange auf der Flucht gewesen war, daß es schon nicht mehr wußte, was das Wort Vertrauen wirklich bedeutete. Dieses Mädchen und ihr Bruder hatten zu viel erlebt, um noch irgendeinem Menschen vorbehaltlos trauen zu können - und schon gar keinem nackten Mann, der unversehens in einer vermeintlich vollkommen leeren Festung vor ihnen auftauchte.

»Laß den Stein fallen«, sagte er, laut, aber trotzdem beinahe sanft. »Wenn ich das wäre, wofür du mich hältst, wärst du schon lange nicht mehr am Leben, glaube mir. Also -?«

»Glaub ihm nicht«, sagte der Junge. »Er lügt! Sie lügen immer. Er wird uns zurückbringen. Oder gleich hier ermorden.«

Skar seufzte, drehte sich langsam zu dem Jungen um und trat einen halben Schritt auf ihn zu. Der Junge erbleichte noch mehr, wich aber nicht weiter vor ihm zurück. Seine Hände begannen stärker zu zittern. Er biß sich auf die Lippe, so fest, daß ein einzelner Blutstropfen aus seinem Mundwinkel lief. Aber er wich keinen Zoll vor Skar zurück.

»Du hast Mut, Kleiner«, sagte Skar. »Aber das allein reicht nicht - siehst du?«

Der Junge keuchte, als Skar eine schnelle Bewegung machte und plötzlich den Stock in Händen hielt, ohne daß er auch nur recht begriff, wie ihm geschah. Skar schüttelte tadelnd den Kopf, zerbrach den Stecken ohne sichtliche Anstrengung in zwei Teile und warf sie zu Boden. Für einen Moment bereitete es ihm eine absurde Befriedigung, den Knaben so spielend entwaffnet zu haben. Dann begriff er, daß er sich selbst sehr kindisch benahm. »Laß einen Mann niemals so dicht an dich herankommen, daß er dich entwaffnen kann«, sagte Skar. Er lächelte verlegen, obwohl er sich darüber im klaren war, daß es bei seinem geschwollenen Gesicht wohl eher einer Grimasse gleichkam, wandte sich wieder an das Mädchen und deutete auf den Stein in ihrer Hand. »Du scheinst an diesem Ding zu hängen«, sagte er. »Behalte es meinetwegen, aber mach keinen Unsinn damit, ja? Also, Syrr - du und dein Bruder, wer seid ihr? Und was tut ihr hier?«

»Wir... wir haben uns versteckt«, antwortete Syrr stockend. »Talin und ich sind ihnen entkommen, aber sie haben uns verfolgt, und... und da haben wir die Höhle entdeckt, und... und wir dachten, hier unten wären wir sicher, aber dann... dann hörten wir Schritte und...«

Skar hob die Hand, um ihren Redefluß zu unterbrechen.

»Nicht so rasch«, sagte er. »Wer sind sie, und warum verfolgen sie euch? Was habt ihr getan?« Er seufzte, ließ sich wieder zu Boden sinken und zog die Knie an den Leib. Sein Kiefer schmerzte so heftig, daß er nicht mehr klar denken konnte. Großer Gott, wie hatte er sich so übertölpeln lassen können - von einem Kind? »Quorrl«, antwortete Syrr nach langem Zögern. »Die... die Quorrl, Herr!«