»Quorrl?« Skar sah auf, blickte das Mädchen ungläubig an und vergaß für einen Moment sogar den pochenden Schmerz in seinem Kiefer. »Sagtest du: Quorrl?« wiederholte er.
»Sie haben uns verfolgt, Herr«, bestätigte Syrr. »Seit drei Tagen fliehen Talin und ich vor ihnen, aber sie... sie haben Hunde dabei, und...«
»Warum erzählst du ihm das?« mischte sich Talin ein. »Er gehört zu ihnen, das weiß ich. Er wird uns verraten!«
»Sehe ich vielleicht aus wie ein Quorrl?« fragte Skar zornig. »Es... es sind auch Menschen bei ihnen«, sagte Syrr. Ihre Stimme schwankte immer stärker. Und ganz plötzlich ließ sie den Stein fallen und begann zu weinen. »Es... es war so entsetzlich«, schluchzte sie. »Ich habe Angst, Herr. Bitte helft uns!« Und dann tat sie etwas, womit Skar hätte rechnen müssen, was ihn aber vollkommen überraschte - sie trat auf ihn zu, fiel plötzlich neben ihm auf die Knie, warf sich an seine Brust und begann hemmungslos zu schluchzen.
Skar blickte hilflos auf sie herab. Er hob die Hand, wie um sie an der Schulter zu berühren oder ihr Haar zu streicheln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern ließ den Arm wieder sinken. Syrrs Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Ihre Fingernägel krallten sich schmerzhaft in seine Haut, und plötzlich spürte er ihre Tränen heiß an seiner Brust herablaufen. »Helft uns, Herr«, stammelte sie. »Ich flehe Euch an - macht mit mir, was Ihr wollt, aber helft meinem Bruder und mir. Ihr... Ihr könnt mich haben, aber bringt... bringt uns hier heraus. Laßt nicht zu, daß sie uns zurückbringen!«
Skar fühlte sich... hilflos. Kindern und weinenden Frauen gegenüber hatte er sich immer hilflos gefühlt, aber nun kam noch seine Verwirrung hinzu, und das Gefühl, daß alles von vorne begann. Sollte denn das Kämpfen und Fliehen niemals ein Ende haben? Außerdem verunsicherten ihn Syrrs Worte, denn wenn sie das bedeuteten, was er glaubte, gefielen sie ihm nicht. Gott, sie war ein halbes Kind!
Behutsam löste er ihren Griff, legte nun doch die Hände auf ihre Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich. Syrr weinte noch immer, wenn sie sich auch jetzt alle Mühe gab, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Ihr Haar hing aufgelöst in die Stirn und bis über ihre Schultern, und jetzt, als sie sich ganz nahe waren, korrigierte Skar seine Schätzung um ein gehöriges Stück nach unten, was ihr Alter anging. Sie war allerhöchstens zwanzig.
»Beruhige dich, Kind«, sagte er, so sanft er konnte. »Ihr seid sicher.« Er lächelte aufmunternd, schob sie mit sanfter Gewalt auf eine der steinernen Sitzbänke und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Syrr sah ihn an, und sofort begannen die Tränen wieder heftiger über ihre Wangen zu laufen. Sie war ein Kind.
»Und jetzt erzähle«, sagte er. »Ich werde deinem Bruder und dir helfen, aber zuerst muß ich wissen, was überhaupt los ist - siehst du das ein?« Er lächelte erneut, verlagerte sein Gewicht ein wenig und hob die Hand, um sie sanft an der Wange zu berühren. Syrr nickte schluchzend, aber Talin trat mit einem zornigen Schritt zwischen sie und Skar, schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn haßerfüllt an. »Rühr sie nicht an!« fauchte er. »Wenn du sie anfaßt, bringe ich dich um, Alter!«
Alter? dachte Skar. Dann fiel ihm ein, daß er wirklich alt war gegen diesen Jungen - an die vierzig Jahre älter als er. Mit Mühe unterdrückte er ein spöttisches Lächeln, bewegte sich ein Stück zurück, ohne sich aus der Hocke zu erheben, und ließ sich schließlich mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken. »Wie du willst, du kleiner Held«, sagte er spöttisch. »Aber wenn ich euch helfen soll, müßt ihr mir wenigstens verraten, wie - und warum.«
Syrr wollte etwas sagen, aber wieder war ihr Bruder schneller. »Nein!« beharrte er. »Erst erzählst du! Wer bist du, und was tust du hier?«
»Laß ihn doch, Talin«, sagte Syrr matt. »Irgend jemandem müssen wir schließlich vertrauen, oder?«
»So wie Ghandrij?« Talin zog eine Grimasse, spie aus und deutete anklagend auf Skar. »Er soll verschwinden! Wir haben bisher niemanden gebraucht, und wir brauchen auch jetzt keinen. Bisher sind wir ganz gut allein zurechtgekommen, oder?«
Skar beschloß, das einzige zu tun, was ihm sinnvoll erschien - den Knaben zu ignorieren. »Erzähle«, sagte er, an Syrr gewandt. »Wie viele sind es, und warum verfolgen sie euch?«
»Erst du!« beharrte Talin. »Wer bist du?«
Skar seufzte. Für einen Moment wallte Ärger in ihm hoch; aber dann kam er sich einfach lächerlich vor bei dem Gedanken, sich mit einem Kind streiten zu sollen.
Resignierend zuckte er mit den Achseln. »Vielleicht hast du sogar recht«, murmelte er. »Mein Name ist Skar. Ich bin...« Irgend etwas hielt ihn davon ab, das Wort Satai auszusprechen; zumindest in diesem Moment. Vielleicht einfach die alberne Scham, von einem Kind niedergeschlagen und um ein Haar getötet worden zu sein. »Ich war der Gast der Gesichtslosen Prediger«, fuhr er fort.
Etwas an seinen Worten schien falsch gewesen zu sein, denn er sah, wie das alte Mißtrauen sofort wieder in Syrrs Augen aufflammte. Ihre Haltung versteifte sich. Ohne daß sie es selbst merkte, rutschte sie ein Stück vor ihm zurück. Und auch ihr Bruder versteifte sich. Seine Hände glitten an seinem Gewand herab, als suchten sie eine Waffe.
»Die Gesichtslosen Prediger?« wiederholte Syrr.
Skar nickte. »Das hier ist ihr Tempel.« Er blickte Syrr und Talin abwechselnd an. »Was ist falsch daran?«
»Du lügst!« behauptete Talin. Er fuhr herum, wandte sich an seine Schwester und deutete heftig gestikulierend auf Skar. »Ich habe es dir gesagt: er lügt. Er gehört zu ihnen!«
»Zum Teufel, was soll das?« fragte Skar ärgerlich.
»Sie... sie sind fort«, murmelte Syrr. »Sie sind geflohen, Skar, schon vor Wochen.«
»Vor Wochen?« Skar schwieg einen Moment. Die Worte des Mädchens überraschten ihn nicht sonderlich. Aber sie erschreckten ihn trotzdem, denn sie enthielten eine Wahrheit, die er zwar geahnt, gegen die er sich aber bis zu diesem Moment noch gesträubt hatte.
»Vor Wochen...«, wiederholte er. »Nun, das... das kompliziert die Sache.«
»Das beweist, daß du lügst!« sagte Talin.
»So?« Skar lächelte sanft. »Meinst du? Glaubst du wirklich, ich würde mir eine so offensichtliche Lüge aus den Fingern saugen, Talin?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich verstehe es selbst nicht. Ich kam hierher, weil ich ein... nun, ein Problem hatte«, sagte er zögernd. »Ich brauchte ihre Hilfe, und sie gaben mir einen Trank. Ich habe geschlafen. Aber ich wußte nicht, daß es so lange war.«
»Ich glaube dir nicht«, beharrte Talin. In seinen Augen blitzte ein Mut, wie ihn wohl nur Kinder aufzubringen vermochten. Skar war sicher, daß er sich auf ihn gestürzt hätte, hätte er eine Waffe besessen.
»Ich schon«, sagte Syrr. Sie schüttelte sanft den Kopf, als ihr Bruder abermals auffahren wollte. »Bitte, Talin - es spielt keine Rolle, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Wenn er lügt und zu ihnen gehört, sind wir sowieso verloren. Und wenn er die Wahrheit sagt, wird er uns helfen.«
Die eiskalte Logik dieses Gedankenganges überraschte Skar. Aber er sagte nichts, denn er spürte, daß er mehr erfahren würde, wenn er einfach schwieg und das Mädchen reden ließ.
»Talin und ich stammen aus Jeda«, begann Syrr mit leiser, zitternder Stimme. »Ihr werdet es nicht kennen. Es... es ist ein kleines Dorf, drei Tagesreisen von hier. Als die Quorrl kamen, sind die meisten von uns fortgegangen, aber ein paar sind geblieben; zumeist Alte und Kranke. Und... und wir auch.«
Quorrl? dachte Skar verwirrt. Wovon zum Teufel sprach dieses Mädchen ?! Laut sagte er: »Und ihr? Ihr seid weder das eine noch das andere.«