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»Unsere Mutter war krank«, antwortete Syrr. »Ich blieb, um sie zu pflegen. Talin habe ich mit den anderen weggeschickt, aber er ist ausgerissen und zurückgekommen.« Sie seufzte. Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht, aber sie weinte jetzt still, und als sie weitersprach, war ihre Stimme sogar erstaunlich klar. Eine Kälte war darin, die Skar im ersten Moment fast erschreckte - bis er begriff, daß sie sich mit äußerster Kraft beherrschte. »In der Nacht darauf kamen die Quorrl. Es war... schrecklich, Skar. Sie haben alle getötet, die sich zu wehren versuchten, und dann alle, die ihnen zu krank oder zu alt waren, um von Nutzen zu sein.« Skar verbiß sich im letzten Moment die Frage, ob ihre Mutter auch dazu gehört hatte. Er kannte die Quorrl.

»Die anderen haben sie verschleppt«, fuhr Syrr fort. »Auch meinen Bruder und mich. Aber wir konnten fliehen, als sie einen Moment unaufmerksam waren.«

»Ich habe einem von ihnen den schmutzigen Hals durchgeschnitten!« sagte Talin stolz. Skar sah ihn an, schwieg einen Moment und runzelte die Stirn. Die Wortwahl des Jungen gefiel ihm nicht. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu sprechen. Er nickte Syrr aufmunternd zu.

»Sie haben uns verfolgt«, berichtete sie. »Ich weiß nicht, wie viele es sind - fünf, vielleicht sechs. Sie haben Pferde und Hunde, aber wir konnten sie abschütteln. Wir sind in die Wälder geflohen, und dann hierher in die Berge, aber die Hunde haben unsere Spur immer wieder aufgenommen. Und dann hat Talin den Eingang entdeckt. Wir... wir dachten, wir wären hier sicher.« Sie schluckte krampfhaft, um die Tränen zurückzuhalten. Es gelang ihr nicht. »Talin sagte, die Quorrl wären ein abergläubisches Volk, das sich niemals hier herunter trauen würde.«

»Damit hat er recht«, sagte Skar.

»Vielleicht.« Syrr lächelte bitter. »Aber sie haben die Hunde. Und es sind Menschen bei ihnen. Wir... haben Schritte gehört, und -«

»Und?« hakte Skar nach, als sie nicht weitersprach.

»Sie sind hier«, sagte Syrr schluchzend. »Ich habe niemanden gesehen, und auch Talin nicht, aber... aber ich spüre sie.« Skar dachte an sein eigenes, beunruhigendes Erlebnis vom Vortage und schwieg. Vielleicht lag es einfach an diesem Tunnellabyrinth, dachte er. Diese Wände hatten so viel Magie und Zauberei erlebt, daß irgend etwas davon zurückgeblieben sein mußte. Sie sollten nicht hier sein. Niemand sollte das.

»Sprich weiter«, sagte er halblaut.

Syrr sah auf, blickte Skar aus weiten Augen an und versuchte vergeblich, das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken. Ihre Stimme wurde fast flehend. »Als... als ich sah, wie Ihr Talin verfolgtet, hielt ich Euch für einen von ihnen, Herr. Ich wollte Euch nicht verletzen, wirklich! Ich hatte nur Angst, und ich... ich dachte -«

»Schon gut«, Skar unterbrach sie mit einer Handbewegung und lächelte. Sein Gesicht schmerzte noch immer, und in den nächsten Tagen würde er wahrscheinlich begreifen, was das Wort Zahnschmerz wirklich bedeutete - aber er konnte das Mädchen verstehen. Er hätte nicht anders reagiert, in ihrer Lage. Und es gab Wichtigeres, als sich in Selbstmitleid zu üben oder gar dieses Kind mit Vorwürfen zu überhäufen, das nichts anderes getan hatte, als um sein Leben zu kämpfen.

»Quorrl, sagst du«, fuhr er fort. »Wieso tut der Herzog von Denwar nichts gegen sie? Hat er Krieger geschickt?«

»Krieger?« Syrr starrte ihn an, als zweifele sie nun ernsthaft an seinem Verstand. »Aber... aber was für Krieger denn? Orkala ist besetztes Land, Herr. Bisher haben sie uns in Ruhe gelassen, hier in den Bergen, aber... aber jetzt -«

»Besetztes Land?« unterbrach sie Skar. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein eisiger, ungläubiger Schrecken breitete sich in ihm aus. »Du willst sagen, es ist Krieg? Mit den Quorrl?«

»Zwischen ihnen und den freien Ländern«, bestätigte Syrr in einem Ton, als habe er sie gefragt, ob die Sonne wirklich jeden Tag aufging. »Aber wißt Ihr denn nichts davon, Herr?« Das alte Mißtrauen flammte wieder in ihrem Blick auf, stärker als zuvor. Aus den Augenwinkeln sah Skar, wie Talin ein Stück vor ihm zurückwich.

»Vergiß den Herrn«, sagte er automatisch. »Und um deine Frage zu beantworten - nein, ich weiß nichts davon. Ich fürchte, ich war länger hier, als ich bisher angenommen habe.«

»Dann müßt Ihr... - du - sehr lange geschlafen haben«, stellte Syrr fest. Etwas in ihrer Stimme hatte sich verändert, registrierte Skar. Sie weinte nicht mehr. Und plötzlich begriff er, daß die schmale Brücke aus Vertrauen, die zwischen ihnen entstanden war, unter der Last seiner Fragen zusammenzubrechen drohte. Vielleicht begann sie sich einfach zu fragen, ob es nicht ebenso gefährlich war, mit einem Verrückten zusammen zu sein, wie mit einem ihrer Verfolger. Bei allen Göttern - was war geschehen? Wie lange hatte er geschlafen?

»Es muß wohl sehr lange gewesen sein«, sagte er rasch. »Ich war... krank. Schwer krank.« Er lächelte unsicher. Syrr starrte ihn an. Das Mißtrauen in ihrem Blick legte sich nicht. Es war jetzt nur von anderer Art »Vielleicht stimmt irgend etwas mit meinem Gedächtnis nicht«, sagte er. »Weißt du, gestern, als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnern. Krieg also?« Im Grunde waren Syrrs Worte nicht einmal so überraschend, wie sie sich im ersten Moment angehört hatten: Die Quorrl überschritten die Grenzen ihres Reservates in fast regelmäßigen Abständen, um plündernd und mordend durch die Welt zu ziehen. Und wenn er alles bedachte - die verzweifelte Hetzjagd, zu der ihn Vela gezwungen hatte, ihre Flucht vor Dronte und die fast zweimonatige Rückreise nach Enwor, dazu die Zeit, die er dagelegen und geschlafen hatte... ja, es mußte fast ein Jahr her sein, daß er das letzte Mal Gelegenheit gehabt hatte, sich um die Geschehnisse draußen in der Welt zu kümmern. Mehr als genug Zeit, um einen Krieg zu verschlafen...

Er lächelte bitter.

»Was ist so komisch?« fragte Talin.

»Oh, nichts«, seufzte Skar. Er streckte die Hand aus, wie um Talins Haar zu streicheln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als der Junge erschrocken vor ihm zurückwich, sondern seufzte nur abermals, und sehr tief. »Weißt du, Knirps«, sagte er, »es gibt einen Spruch, nach dem die Götter die lieben, mit denen sie ihre Scherze treiben. Sollte es wahr sein, dann müssen sie unsterblich in mich verliebt sein.«

Er lachte, als er die Verwirrung auf Talins Zügen sah, und stand mit einer kraftvollen Bewegung auf. »Habt ihr Essen?« Syrr schüttelte den Kopf. »Nein. Wir... hatten keine Zeit, Fallen zu stellen, und der Winter war sehr hart. Ich habe gehofft, hier etwas zu finden, aber...« Sie sah ihn fast hoffnungsvoll an. »Habt ihr... hast du etwas?«

Skar grinste. »Ja«, antwortete er. »Hunger. Ihr seid hier heruntergekommen - kennt ihr auch den Weg hinaus?«

Syrr nickte. »Warum?«

»Weil ich keine große Lust habe, in diesem Rattenloch zu verhungern«, antwortete Skar scharf. »Oder darauf zu warten, daß sie kommen und uns holen. Ich bringe euch raus. Zurück in euer Dorf, oder irgendwohin, wo ihr sicher seid.«

»Das nächste freie Land ist Lora!« protestierte Syrr. »Es sind zehn Tagesmärsche bis dorthin!«

»Wer sagt, daß wir zu Fuß gehen?« erwiderte Skar. »Wir brauchen Kleider, Waffen und Nahrung. Und Pferde. Könnt ihr reiten?«

Syrr nickte verwirrt. »Sicher. Aber wo... wo willst du Pferde herbekommen?«

»Woher schon?« sagte Skar leichthin. »Von den Quorrl natürlich.«

2.

Die Ebene breitete sich unter ihnen aus wie ein mit zarten Farben gemaltes Bild: flach und scheinbar endlos, denn der Blick verlor sich schon auf halber Strecke zum Horizont hin in grauem Nebel, der wie Dampf aus dem Boden stieg. Der Himmel hing tief, und er war bedeckt mit schweren, bauchigen grauen Wolken, die so aussahen, wie die Luft roch: nach Schnee.