Die Kerzen flackerten in ihren mexikanischen Silberrosen-haltern, und Avery blies sie aus. Aber selbst im Dunkeln steckte das Zimmer noch voller Erinnerungen an Tim. Er schreckte vor dem Wort Erinnerung zurück und schalt sich selbst dafür, daß er so melodramatisch war. Denn schließlich würde Tim zurückkommen. Aber kaum hatte er sich das gesagt - was ihm ja eigentlich ein Trost hätte sein sollen -, da wurde der Gedanke auch schon von hundert anderen überschwemmt, die alle vor glühendem Selbstmitleid trieften. O ja, sagte sich Avery mit einem kläglichen Hohngelächter, es bestand kein Zweifel daran, daß er zurückkommen würde. Jemanden wie mich findet er auf die Schnelle garantiert nicht wieder. Wer sonst würde für ihn kochen und bügeln, das Haus sauberhalten, für ihn sorgen und nicht mehr dafür verlangen als ab und zu ein freundliches Wort? Und selbst das so beiläufig in eine Unterhaltung eingeworfen, als wäre es ein Knochen für einen räudigen Köter. Wer außer mir hätte einen Buchladen gekauft und die Hälfte davon verschenkt - ja, verschenkt, wetterte Avery. Mit wessen Geld ist das Haus möbliert worden? Und wer hat für die Urlaube bezahlt? Und er hatte so wenig dafür verlangt. Ihn nur einfach lieben und sich um ihn kümmern zu dürfen. Bloß, um als Gegenleistung dafür ein Quentchen Zuneigung zu erhalten. Er war durch diesen erhellenden Einblick in den Edelmut seiner Seele zutiefst bewegt, und daher vergoß Avery eine untröstliche Träne.
Aber die Träne war noch nicht ganz auf seiner weichen Wange getrocknet, da hatte der kalte Finger der Vernunft bereits auf etwas gedeutet, was ihn zutiefst beunruhigte: nämlich, daß sich für eine angemessene Summe durchaus Leute finden würden, die für ihn kochten und bügelten. Tim hatte früher als hervorragender Latein-und Französischlehrer ein blendendes Gehalt verdient, von dem sich durchaus ein angenehmes Leben führen ließ. Zweifellos konnte er das auch jetzt wieder tun. Und wenn Avery all diese Worte, die momentan wie Tiger um sein Herz schlichen, herausließ, sobald Tim zurückkam, dann würde dieser vermutlich einfach wieder seinen Mantel anziehen, seinen Borsalino aufsetzen und erneut fortgehen, aber diesmal für immer. Und tatsächlich (Avery fühlte sich krank vor Sorge) war es selbst dann, wenn er die größten übermenschlichen Anstrengungen auf sich nahm, um sich zu beherrschen und ruhig und verständnisvoll zu verhalten, wahrscheinlich schon zu spät. Hatte doch Tim bereits jemand anderen getroffen.
Leise stand Avery auf und schaltete das Licht an. Er hatte das Gefühl, sich bewegen und herumlaufen zu müssen. Avery dachte daran, zum Revier zu gehen und Tim dort abzuholen. Er wollte das Schrecklichste direkt von ihm erfahren. Doch dann, als er seinen Mantel schon angezogen und die Tür geöffnet hatte, erkannte er, daß dies ein sehr dummes Vorhaben war. Denn Tim haßte nichts mehr, als wenn Avery »hinter ihm hergekrochen kam«. Auch hatte ihm (Avery warf seinen Mantel auf das himbeerfarbene Sofa) sein kurzer Ausflug zur Tür klargemacht, daß ihm unglaublich schwindlig und übel war. Er setzte sich an den Tisch, aber es bereitete ihm ziemliche Mühe, aufrecht dazusitzen. So hielt er sich an der Tischkante fest und kam sich dabei vor, als säße er in der Drehtür seiner Emotionen fest. Ihn hatten leidenschaftliche Eifersucht, Wut, bohrende Angst, sinnliche Lüsternheit und Mißtrauen bereits in einem Affentempo heimgesucht, aber nun schien er all diese Gefühle auf seinem Weg zurück ins Wohnzimmer wieder anzutreffen.
Avery gab sich zwar die größte Mühe, wieder aus diesem dicken Sumpf der Erbärmlichkeit freizukommen. Er trank einige große Gläser Perrier und setzte sich ruhig hin, um sich zu sammeln. Er versuchte, so zu denken, wie Tim das tun würde. Schließlich konnte das, was einmal geschehen war, nicht wieder ungeschehen gemacht werden. Vermutlich, dachte Avery ängstlich, mache ich bloß wieder aus einer Mücke einen Elefanten. Wahrscheinlich war das genau das, was Tim erwartete. Armer Tim. Erst Stunden auf der Polizeiwache hocken und dann nach Hause kommen, um dort mit einer rasenden Schreierei und einem üblen Krach konfrontiert zu werden. Wie bemerkenswert und verwunderlich wäre es, wenn er dagegen von einem ruhigen, lächelnden, natürlich etwas distanzierten, aber zur Vergebung bereiten Freund begrüßt werden würde. Diejenigen aber, die frei von Sünde sind und so weiter und so fort. Avery kaute dieses ganze Gewäsch gründlich durch. Was würde es denn bringen, sauer auf Tim zu sein? Nur weil er nicht wirklich treu sein konnte? Ich liebe ihn ja nun mal so sehr, weil er eben ganz anders ist als ich, erkannte Avery, der jetzt vor lauter Sentimentalität melancholisch wurde. Wie stolz wird er sein, wenn er sieht, wie gut ich tatsächlich mit solchen Dingen umgehen kann. Er wird mich für sehr reif und weise und unvoreingenommen halten angesichts meiner Reaktion auf diese erste echte Katastrophe. Als Avery hörte, daß sich ein Schlüssel im Schloß umdrehte, war seine Brust geschwollen wie die eines werbenden Truthahnes. Einen Moment später stand Tim vor ihm.
Avery brüllte: »Du treuloser Bastard!« und warf eine der chinesischen Schalen nach ihm. Tim duckte sich, die Schale traf die Türfassung und zersprang in kleine Stücke. Als sich Tim bückte, um sie aufzuheben, schrie Avery: »Laß es sein! Ich will sie nicht mehr. Keine davon. Sie kommen alle in den Mülleimer!«
Tim ignorierte ihn, sammelte die Teile auf und legte sie auf den Tisch. Dann holte er sich ein sauberes Glas aus der Küche und schenkte sich etwas von dem Clos St. Denis ein. Er roch daran und gab einen verwunderten Laut von sich, als er einige Korkstücke aus dem Wein zog.
»Ich hatte sie doch zurückgelegt.«
»Zurücklegen und flachlegen, das ist anscheinend alles, was du im Kopf hast.«
»Wenn du dich schon vollaufen lassen wolltest, wieso hast du dann nicht den Däo getrunken? Wir haben ein halbes Dutzend Flaschen davon in der Vorratskammer.«
»O ja, der Däo! Jeder Dreck ist für mich ja auch gerade gut genug, nicht wahr? Ich habe nicht deinen exquisiten Gaumen. Deinen gefeierten je ne sais quoi.«
»Sei nicht albern.« Tim trank gedankenversunken einen Schluck. »Wunderbar fruchtig. Viel Charakter. Aber kein ganz so großer Wein, wie ich es erwartet hatte.«
»Verdammt hochnäsig, das muß ich schon sagen.«
»Ich bin müde.« Tim zog den Schal und den Mantel aus. »Ich gehe ins Bett.«
»Du wirst jetzt ganz bestimmt nicht ins Bett gehen. Du wirst mein Haus verlassen. Und zwar sofort!«
»Ich werde zu dieser späten Stunde nirgendwo hingehen, Avery.« Tim hängte seinen Mantel auf. »Wir werden morgen darüber reden, wenn du wieder nüchtern bist.«
»Wir werden jetzt reden!« Avery sprang vom Tisch auf und stolperte durch den Korridor, wo er sich vor der Treppe aufbaute und den Weg nach oben versperrte. Daraufhin machte Tim kehrt, ging in die Küche und begann, die Kaffeemaschine zu füllen. Avery folgte ihm und brüllte: »Was machst du da? Rühr meine Sachen nicht an!«
»Wenn ich schon aufbleiben muß, dann brauche ich einen starken Kaffee. Und so wie es aussieht, würde dir das auch guttun.«
»Was hast du denn erwartet? Daß du nach Hause kommst und mich verständnisvoll, freundlich und sachlich vorfindest? Vielleicht noch alles schön aufgeräumt nach dem letzten Essen? Deine dreißig Teile Tafelsilber schon herausgelegt?«
»Wieso benimmst du dich eigentlich so melodramatisch?« Tim löffelte den Costa Rica in die Maschine. »Komm schon, setz dich hin, bevor du umfällst.«
»Das würde dir so passen, nicht wahr? Dir würde es gefallen, wenn ich jetzt umfiele, mir den Kopf aufschlüge und sterben würde. Dann würdest du den Laden und das Haus erben, und du könntest endlich diese verdammte kleine Schlampe mit ins Haus bringen. Nun, das kannst du dir abschminken, ich werde morgen als erstes zum Anwalt gehen und mein Testament ändern.«