»Tut mir leid um den Teller.«
»Nein. Nein. Das habe ich mir schon immer gewünscht«, sagte Tim höflich. »Eine echte Uhu-Atmosphäre.«
»... erinnerst du dich noch an Cornwall?«
»Bis an mein Lebensende. Ich habe geglaubt, ich kriege dich nie wieder von diesem Fischer aus Redruth fort.«
»Oh...« Avery wandte seinem Liebhaber ein schuldbewußtes Gesicht zu. »Das hatte ich ja ganz vergessen.«
»Ich aber nicht. Allerdings... wie du siehst... ich bin immer noch da.«
»Ja. Meinst du« - Avery streckte die Hand aus -, »daß wir jemals wieder glücklich werden?«
»Hör bitte auf, in einer mystischen Zukunft zu leben. Du kannst das Glück nicht erfinden. Es ist nur ein Nebenprodukt des alltäglichen Trotts.«
»Aber wir waren doch glücklich, Tim, nicht wahr?«
»Wir sind glücklich, du alter Miesmacher. Das Beste wäre, wenn wir jetzt nicht mehr weiterreden würden. Ich bin nämlich hundemüde.«
Tim ging nach oben, während Avery seinen Kaffee austrank.
Avery fühlte sich wie ein Sandsack, den man gerade bearbeitet hat und dann endlich in Ruhe läßt. Er zitterte immer noch bei der Erinnerung an das Gewesene, und er hatte Beulen. Dann lichtete sich, weil der erste Schrecken vorüber und Tim zurückgekommen war und auch bleiben würde, die geballte Niedergeschlagenheit, die Averys Angst verdrängt hatte, und eine Wolke, die nicht größer war als die Lüge eines Mannes, kehrte zurück.
Tims Bemerkung, die er zuerst geleugnet und dann mit einem Achselzucken abgetan hatte, erschien plötzlich in einem bedrohlichen Licht. Denn es kam Avery ganz so vor, als spielte dieses »Wir werden jetzt erst recht gehen müssen« auf ein Geheimnis an, das ihm verborgen war. Dahinter schien zu stecken, daß Avery und Tim trotz ihres Alleingangs mit der Beleuchtung im Latimer hätten bleiben können, wenn Esslyn nicht getötet worden wäre. Und jetzt kam als Zugabe zu Averys Befürchtungen auch noch die Information ans Licht, daß Tim der Liebhaber von Kitty gewesen war. Und es war Tim, der das Rasiermesser besorgt hatte. War er wirklich in der Pause auf die Toilette gegangen? Und wieso war er nach unten gegangen, wo es doch im Vereinsraum zwei Toiletten gab?
Tim rief: »Was ist denn los? Nun komm schon...«
Und zum allerersten Mal, seit sie sich kannten, stand Avery, obwohl das gewohnte Prickeln der Lust in seinem Fleisch nicht ausblieb, nicht auf und eilte dem Quell seines Entzückens entgegen. Er blieb in seiner unordentlichen Küche sitzen, und ihm wurde kälter und immer kälter. Und er fürchtete sich zunehmend mehr.
Es war der folgende Tag, und Harold hatte einen seiner seltenen mittäglichen Auftritte am Eßtisch. Gewöhnlich aß er außerhalb, und Mrs. Harold war deshalb einigermaßen verwirrt. Ihr Haushaltsgeld war kärglich, und wenn für irgend etwas höhere Kosten anfielen, dann mußten diese augenblicklich anderswo wieder eingespart werden. Sie hatte ganz hinten in ihrem Küchenschrank eine Dose Fray-Bentos-Fleisch und Nierenauflauf gefunden und war schnell losgelaufen, um ein paar frische Möhren von dem Geld zu kaufen, das eigentlich für ihre Blumen gedacht war. Aber Harold aß so geistesabwesend, daß sie das Gefühl hatte, sie hätte ihm auch ihr eigenes Mittagessen (gekochte Kartoffeln und zwei Scheiben Frühstücksfleisch) vorsetzen können, ohne daß er es überhaupt zur Kenntnis genommen hätte.
Während sie jetzt den letzten Tropfen Sauce auftunkte, bemerkte sie: »Es sieht dir gar nicht ähnlich, zum Mittagessen nach Hause zu kommen, Harold.«
»Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Es ist Nicholas’ halber Tag, und wir müssen uns ernsthaft über seine Zukunft unterhalten.«
»Weiß er denn, daß du kommen wirst?« Harold sah sie verständnislos an. »Ich meine, hast du einen Termin mit ihm?«
»Sei nicht albern, Doris. Ich mache doch mit den Nachwuchsmitgliedern meines Ensembles keine Termine.«
»Aber dann ist er vielleicht gar nicht da.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wo er an einem so schrecklichen Tag sonst sein sollte.«
Doris sah auf die schwarzen Ruten, mit denen der Regen gegen das Küchenfenster schlug. Sie sagte: »Ich habe noch ein Stück Kuchen, Harold. Wenn du es haben möchtest.«
Harold antwortete nicht. Er schaute seine Frau zwar an, aber er registrierte ihr gelbgraues Haar, das schäbige Kleid und die Strickjacke nicht. Seine Gedanken galten ausschließlich seinem zukünftigen Hauptdarsteller. Er sah Nicholas bereits als Wanja über die Bühne laufen und später vielleicht als Tartuffe und noch später als Othello oder sogar als Lear. Warum auch nicht? Unter Harolds erfahrener Führung könnte sich der Junge zu einem hervorragenden Schauspieler entwickeln. Von Kopf bis Fuß so gut wie Esslyn. Vielleicht sogar noch besser.
Harold war diese Entscheidung nicht leichtgefallen. In Gedanken hatte er mit Boris gespielt und sogar mit den Everards, die auf ihre verschrobene Art recht interessante Vorstellungen gaben. Aber er war sich bewußt, daß das Potential der drei zusammengenommen nicht an das Können von Nicholas heranreichte. Der einzige Grund, wieso Harold versucht hatte, eine Alternative zu finden, war der, daß er bei den Proben zu Amadeus bei dem Jungen eine Art Starrsinn festgestellt hatte, eine Veranlagung dazu, Mätzchen zu machen. Mehrfach hatte er das Gefühl gehabt, Nicholas entzöge sich seinem Zugriff, und die schlummernde Energie, die er wiederholt beobachtet hatte, war äußerst beunruhigend, um es mal harmlos auszudrücken. Natürlich war Nicholas auch reichlich keck. Aber Harold hatte keinen Zweifel, daß er damit schon zurechtkommen würde. Schließlich war er ja auch mit Esslyn fertig geworden.
»Weshalb willst du dich denn mit ihm treffen?« erkundigte sich Doris.
»Ich dachte, das sei offensichtlich. Ich muß einen Ersatz für Esslyn finden.«
Pflichtbewußt begleitete Mrs. Harold ihren Gatten zur Tür, als er das Haus verließ, und sie winkte, als er seinen Bauch hinter das Lenkrad des Morgans zwängte und aus der Garage fuhr. Einen Ersatz für Esslyn, dachte sie, als sie die Teller und das Besteck in die Spüle legte. Man hätte meinen können, Esslyn sei ein Türgriff. Oder eine zerbrochene Teekanne.
Die Reaktionen von Harold und dem Rest der CADS auf den Tod ihres Hauptdarstellers hatten sie zutiefst schockiert. Sie wußte, daß er nicht beliebt gewesen war (sie hatte ihn auch nicht besonders gut leiden können), aber irgend jemand hätte doch irgendwo ein paar Tränen vergießen müssen. Sie beschloß, zu seiner Beerdigung zu gehen, ließ daher die Teller stehen und ging nach oben, um etwas Schwarzes auszusuchen, was nicht gar so schäbig war.
Inzwischen fuhr Harold durch die Causton High Street und parkte vor dem Blackbird. Er hatte vor, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, und daher war er erfreut, als er Avery sah, der seine Begrüßung auf eine überzogene Art erwiderte, und er war auch froh darüber, daß sein Partner sich ebenfalls in der Buchhandlung aufhielt. Harold winkte Tim gönnerhaft ins Kabuff und kündigte an: »Ich werde das Vorsprechen für Wanja am Freitag abend abhalten. Deshalb sause ich herum und informiere jeden. Ist Nico da?«
»Ja, aber er ist...«
»Gut. Also, ich bin sehr daran interessiert, daß ihr mir jede auch noch so kleine Idee zur Beleuchtung des Stücks mitteilt.« Er ignorierte Tims überraschten und ironischen Blick, als er fortfuhr: »Technisch seid ihr äußerst fähig, und ich denke, es ist höchste Zeit, euch eine Chance zu geben, damit groß herauszukommen.«
»Danke, Harold.«
»Aber bitte nicht zu wüst. Es ist ein russisches Stück. Vergeßt das nicht.« Als wolle er ein Geheimnis lüften, zog Harold den Chenillevorhang zur Seite und machte sich daran, die Treppe hinaufzusteigen.