Nicholas saß auf dem Boden und deklamierte. Das Gasfeuer brannte, und in dem Zimmer war es warm und gemütlich. Cully Barnaby lag zusammengerollt auf seinem Bett und trank Kaffee. Textseiten bedeckten den Fußboden, und Nicholas las aus der Harrison-Übersetzung des Aischylos: »Unter, unter, unter er ging, und fallend wußte er nichts, nichts. Eine erdrückende Wolke des Wahnsinns umfing das Opfer. Das Murren alter...«
Als Harold in der Tür auftauchte, brach Nicholas ab. Er und Cully sahen den Eindringling eher etwas unterkühlt an.
»Ah«, sagte Harold und ignorierte die frostige Begrüßung, registrierte aber den Äischylos-Text. »Ich hätte eigentlich erwartet, daß du den Wanja liest.«
»Wieso denn das, Harold?«
»Das Vorsprechen ist am Freitag.« Harold hätte diese Unterredung lieber nicht in Anwesenheit von Tom Barnabys Tochter geführt. Seiner Meinung nach war sie zwar eine gute Schauspielerin, aber vor allem ein freches, kleines Mädchen und in einer Art und Weise von sich selbst eingenommen, die sich auch mit dem Erwachsenwerden nicht gebessert hatte. Harold räusperte sich.
»Ich bin sicher, du wirst sehr stolz... begeistert sein zu hören, daß ich dich vor allen anderen aus der Truppe dazu ausersehen habe, die Nachfolge Esslyns als mein Hauptdarsteller anzutreten.« Harold konnte aus Nicholas’ Gesicht ablesen, daß er vielleicht doch etwas subtiler an die Sache hätte herangehen sollen. Der Junge wirkte zutiefst irritiert. Zur Beruhigung fügte Harold hinzu: »Du bist natürlich noch zu jung für den Wanja, aber wenn du hart arbeitest, dann weiß ich, daß es mit meiner Hilfe ein großer Erfolg für dich werden wird.«
»Ich verstehe.«
Nicholas war so überwältigt von seinen Gefühlen, daß er die Worte nur stammeln konnte. Dann bemerkte er noch etwas, aber das Mädchen hatte sich gerade diesen Moment ausgesucht, um einen Hustenanfall zu bekommen, und Harold mußte Nicholas bitten, seine Worte noch einmal zu wiederholen. Als er das tat, klappte Harold vor lauter Überraschung der Kiefer runter. Er wankte zum nächsten Stuhl und ließ sich darauf fallen.
»Du verläßt uns?«
»Ich gehe ans Central. An die Central School of Speech and Drama. Ich wollte doch schon immer zum Theater.«
»Aber... du bist doch beim Theater.«
»Ich meine, ein echtes Theater.«
Die Kraft dieser Antwort hob Harold förmlich aus dem Sessel. Er stieß einen lauten Schrei aus, in dem Wut, Ungläubigkeit und Schrecken zu gleichen Teilen lagen. Nicholas wurde blaß und sprang eilig auf. Cully hörte auf zu husten.
»Wie kannst du es wagen!« Harold ging auf Nicholas zu, der Mühe hatte, nicht zurückzuweichen. »Wie kannst du es wagen! Mein Theater ist so echt... ist so wahr... und genauso gut wie jedes andere im ganzen Land. Wie jedes andere auf Erden. Weißt du eigentlich, mit wem du hier sprichst? Kennst du meine Vita? Ich habe auf den Bühnen, von denen du zu sagen beliebst, sie seien das echte Theater, Applaus für meine Arbeit bekommen, Beifallsbekundungen, für die Schauspieler ihre Seele verkaufen würden. Stars haben sich darum gerissen, mit mir zu arbeiten. Ja, Stars! Wenn da nicht Umstände gewesen wären, die sich meiner Kontrolle vollständig entzogen haben, glaubst du, dann würde ich jetzt hier arbeiten? Mit solchen Leuten wie dir?«
Der letzte Satz war ein einziger gequälter Aufschrei. Dann stand Harold nur noch da und keuchte. Er wirkte fassungslos und zugleich lächerlich, und dennoch hüllten ihn die Fetzen seiner nahezu heroischen Würde ein. Er wirkte wie ein großartiger Mann, der über Nacht uralt geworden ist. Oder wie ein Krieger, auf dessen Haupt Kinder eine Papierkrone gesetzt haben.
»Tut mir... tut mir leid...«, stotterte Nicholas. »Wenn du willst, bleibe ich für Wanja hier... ich muß ja nicht sofort nach London...«
»Nein, Nicholas.« Harold unterbrach den Jungen mit einer einfachen Geste. »Ich kann nicht mit jemandem arbeiten, der meine Fähigkeiten als Regisseur weder zu schätzen noch zu respektieren weiß.«
»Oh. Natürlich. Ich möchte aber trotzdem zum Vorsprechtermin kommen... ist das in Ordnung?«
»Jeder«, antwortete Harold, und etwas Lehrerhaftes kam bei ihm zum Vorschein, »kann vorsprechen.«
Nachdem er gegangen war, lächelten sich die beiden jungen Leute an; sie feierten ihre Begegnung und ihre gegenseitige Bewunderung.
»Wirst du am Freitag hingehen?« fragte Cully.
»Ich denke schon. Vielleicht hat er sich bis dahin ja wieder abgeregt.«
»Dann gehe ich auch hin.«
»Das würdest du tun?«
»Wieso nicht? Ich muß nicht vor Ende Januar zurück sein. Und ich gäbe alles dafür, die Jelena spielen zu dürfen. Wir könnten uns unsere Rollen doch gemeinsam und auf unsere Weise erarbeiten.«
»Himmel, das wäre ja phantastisch.«
Cully öffnete ihre schönen Lippen ein wenig und lächelte wieder. »Der Meinung bin ich allerdings auch«, sagte sie.
Barnaby und Troy waren im Büro von Hartshorn, Weather-wax und Tetzloff. Mr. Ounce, der Esslyn Carmichaels Angelegenheiten regelte, war freundlich, wenn auch etwas herablassend. Seine ganze Art drückte aus, daß er es nicht gewohnt war, mit der Polizei umzugehen. Dennoch hoffte er, da ihm nun einmal diese Bürde aufgetragen worden war, daß er sich so gut benehmen könne wie jeder andere auch.
Aber wenn Barnaby insgeheim erwartet hatte, hier in dieser Anwaltskanzlei einen dunklen Fleck im Leben des Ermordeten zu entdecken, dann hatte er kein Glück. Mr. Ounce konnte dem nüchternen Inhalt, den Barnaby im Schreibtisch von White Wings gefunden hatte, nur sehr wenig hinzufügen. Auf Carmichaels Konto waren keine größeren Geldbeträge ein-oder abgegangen, alles war deprimierend gut geordnet, die Bilanz genauso, wie man sie erwartet hätte. Das einzige, was nun noch blieb, war das Testament, dessen Inhalt er jetzt hören würde. (Er hatte angeboten, auf die offizielle Weise zu verfahren und erst zum Magistrat zu gehen, aber Mr. Ounce hatte großzügig darauf verzichtet, weil er meinte, die Todesumstände seien hier eine ausreichende Begründung für die Eile.)
Das Dokument war kurz und knapp. Seine Witwe würde das Haus und einen ansehnlichen Unterhalt für sich und das Kind erhalten, solange sie den mütterlichen Pflichten in angemessener Weise nachkam. Carmichael junior würde an seinem einundzwanzigsten Geburtstag den gesamten Zaster kriegen, und im Falle eines vorzeitigen Ablebens des Kindes würde alles, einschließlich White Wings, an den Bruder in Ottawa gehen. Mr. Ounce legte das Pergament wieder in die Dokumentenbox zurück und ließ das Schloß zuschnappen.
»Fein säuberlich geregelt«, urteilte Barnaby.
»Ich muß gestehen, daß mein guter italienischer Assistent hierbei etwas nachgeholfen hat, Herr Chefinspektor.« Er stand von seinem alten ledernen Bürostuhl auf. »Wir können doch nicht zulassen, daß alles immer nur nach dem Wunsch der Damen geht, oder?«
»Mensch«, sagte Troy, als sie wieder im Revier waren und sich mit einem starken Kaffee aufwärmten. »Ich wäre zu gern eine Fliege an der Wand, wenn Kitty das hört.«
Barnaby schwieg. Er saß hinter seinem Schreibtisch und pochte mit den Fingernägeln der einen Hand an die der anderen Hand. Eine Angewohnheit, der er immer dann frönte, wenn er tief in Gedanken versunken war. Es brachte Troy um den Verstand. Er fragte sich, ob er nicht für eine schnelle Kippe nach draußen gehen könne, als sein Chef plötzlich die Stille brach.
»Ich habe ein Problem mit dem zeitlichen Ablauf, Sergeant...« Troy setzte sich auf. »Es gibt nun wirklich genug Methoden, einen Mann zu töten. Wieso ausgerechnet vor hundert Zeugen... das Risiko hinter den Kulissen auf sich nehmen... das Herumfummeln an dem Rasiermesser, wenn man ihm doch genausogut irgendwo bequem im Dunkeln hätte auflauern können?«
»Ich glaube, damit hätte derjenige eher Kitty eins ausgewischt, Chef. Wenn jemand es bei ihm zu Hause versucht hätte, dann wäre sie die erste gewesen, die wir verdächtigt hätten.«