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»Aha.«

»Als er sich das Tablett gegen acht noch einmal angesehen hat, waren die Nieten aber nicht mehr da.«

»Dann...« Troy ließ sich von der Begeisterung des Inspektors anstecken, »... dann gab es also zwei Rasiermesser.«

»Genau, es waren zwei.«

»Also... dann sind alle unsere Probleme mit der Zeit ...?«

»Gelöst. Die ganze Sache ist offen. Es kann zwischen dem Zeitpunkt, zu dem Dierdre es überprüft, und dem, als David es genommen hat, jederzeit ausgetauscht worden sein.«

»Also... wer immer die beiden Messer gegeneinander ausgetauscht hat, konnte in aller Ruhe das Klebeband von dem Original abziehen und es dann wieder hinlegen.«

»Genau. Ich habe natürlich auch an diese Möglichkeit gedacht, aber ich hatte angenommen, daß keiner das Risiko auf sich nehmen würde, das Tablett fünf Minuten ohne das Rasiermesser auf dem Requisitentisch stehen zu lassen, selbst in den dunklen Kulissen nicht. Aber wie wir nun sehen, war das ja auch gar nicht nötig.«

»Also, dann tappen Sie jetzt nicht mehr im dunkeln, Sir?« Troy mußte sich Mühe geben, nicht gereizt zu klingen. Er wollte nicht schlecht gelaunt wirken, aber die Art, in der manchen Leuten die Informationen zufielen, übertraf doch jegliche Vorstellungskraft. Dann aber fiel ihm wieder ein, daß am Ende eines erfolgreichen Falles immer auch ein paar Lorbeeren für den Taschenträger abfielen, und das munterte ihn wieder auf. »Dann haben wir also ein Full House? Jeder könnte es gewesen sein?«

»Ich denke, Avery Philips können wir ausschließen. Er ist bis nach dem Mord nicht aus der Kabine gekommen. Aber abgesehen von ihm, ja... jeder.« Er stand auf, war plötzlich wieder hellwach und energiegeladen. Er nahm seinen Mantel. »Ich werde jetzt einen Durchsuchungsbefehl besorgen. Fahren Sie in der Zwischenzeit den Wagen vor.«

»Suchen wir nach dem Rasiermesser, Sir?«

»Ja. Ich glaube zwar, daß derjenige, der es hatte, das Ding möglicherweise schon weggeworfen hat, aber vielleicht haben wir ja Glück.«

Als Barnaby aus dem Büro des Kommissars Penrose zurückkam, hatte Troy den Burberry eng gegürtet und den Wagen schon vorgefahren.

»Wohin als erstes, Sir?«

»Wir können eigentlich genausogut oben anfangen und uns langsam nach unten Vorarbeiten.«

»Also Chief Onkel Bulgaria?«

Barnaby lachte. »Meine Tochter liebte die Wombles.«

»Ich auch«, antwortete Troy, und Barnaby seufzte.

Dierdre öffnete die Eingangstür des Hauses und ging hinein. Es war erschreckend still. Sie hatte immer geglaubt, die Anwesenheit ihres Vaters wäre kaum zu hören; jetzt aber wurde ihr bewußt, wie viele der kleinen Geräusche zu ihm gehört hatten. Das Knarren des Lehnstuhls, das sanfte Reiben seiner Kleidung an den Möbeln und das trockene Rasseln seines Atems. Sie zog den Mantel aus, ließ Sunny von der Leine und hing Mantel und Leine in der schmuddeligen Halle auf. Dann ging sie in die Küche, wo sie unentschlossen herumstand und die Teller ansah, die seit Tagen mit Bratensaft und Senf beschmiert in der Spüle standen. Sie sahen aus, als gehörten sie genauso zum Inventar wie die gefleckten Chromarmaturen und die schmutzige Handtuchrolle. Das Beste wäre es, sich an die Arbeit zu machen. Der medizinische Sozialarbeiter hatte ihr das empfohlen, und Dierdre wußte, daß er recht damit hatte. Schon als sie dastand, sah sie sich wischen, polieren und schrubben. Neue fröhliche Gardinen aufhängen und eine blühende Geranie auf die Fensterbank stellen. Aber so lebendig diese Bilder auch waren, sie verblaßten neben dem enormen Überdruß an der Realität, der so groß war, daß sie schon anfing zu glauben, sie würde sich nie wieder bewegen können.

Sunny, der draußen noch wie ein Wilder herumgesprungen und durch die Gegend gerannt war, hatte die Situation bereits mitgekriegt und hockte sich ruhig zu ihren Füßen hin. Dierdre nahm ihre Ausgabe von Onkel Wanja, in die Seiten mit Regieideen, Notizen und Skizzen eingelegt waren, zur Hand. Die netteste Episode, die sie während ihres Aufenthalts bei den Barnabys erlebt hatte, war am Mittwoch geschehen, als sie sich stundenlang mit Cully über das Theater unterhalten hatte - die Unterhaltung hatte zunächst etwas schüchtern begonnen, aber dann, als ihre Gesprächspartnerin mit großem Interesse reagierte, war sie immer enthusiastischer geworden. Sie hätten sich sogar noch während des (außergewöhnlich ungenießbaren) Mittagessens weiter unterhalten, bis in den Nachmittag hinein, um ganz genau zu sein, bis zu dem Zeitpunkt, als Dierdre zum Krankenhaus mußte. Sie konnte im nachhinein nicht mehr verstehen, wieso sie jemals hatte glauben können, daß Cully höhnisch und reserviert sei.

Sunny gab einen hoffnungsvollen Laut von sich und verzog dabei seine Lefzen in dieser seltsamen Hundemanier -halb gähnend, halb grinsend. Dierdre zuckte schuldbewußt zusammen. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gefressen, sich aber bisher noch nicht darüber beklagt. In ihrer Tasche befanden sich drei Dosen mit Fleisch und eine große Tüte Winalot, und sie schüttete Futter auf einen Teller und füllte ein Steingutschüsselchen, auf dem HUND stand, mit frischem Wasser. Sie ließ den Klang eifrigen Schleckens hinter sich zurück, als sie die Stufen hochstieg.

Im Zimmer ihres Vaters fing sie automatisch an, sein Bett zu machen, doch dann hörte sie plötzlich damit auf, weil ihr auf einmal die vollkommene Sinnlosigkeit ihres Tuns bewußt wurde. Sie hielt die grüne Decke über dem Arm, sah sich um und nahm eine Flasche Medizin und kleine Folien mit Tabletten auf dem Bambustisch wahr; außerdem die Bibel, die bei dem ersten Buch der Könige aufgeschlagen war und ein Bild von Elias zeigte, der von Raben gefüttert wird, und zwei Stücke türkischen Honig auf einem Teller.

Allmählich und mit tiefer Besorgnis erfaßte sie die volle Bedeutung von dem, was sich ereignet hatte. Ihr Vater war nicht nur arm und etwas instabil oder ab und an ein wenig anfällig. Er war senil und stellte eine Gefahr für sich selbst und andere dar; das Gleichgewicht seines Gehirns war gestört. Dierdre hatte plötzlich die Vision von einer altmodischen Waage und einer unpersönlichen Hand, die mit einer kleinen Messingschaufel runde Körner Gesundheit in eine Schale rieseln ließ. In die andere Schale ergoß sich der heiße, dunkle Fluß der Irrationalität, bis die Schale überfloß und der Strom die blassen Körner erst überschwemmte und dann in den schwarzen Strom des Wahnsinns fortspülte.

Dierdre senkte ihren Kopf. Sie schwankte und mußte einen Moment um Atem ringen. Aber sie setzte sich nicht hin. Und sie weinte auch nicht. Sie stand volle fünf Minuten in einem Aufruhr aus Elend und Kummer da und fing dann an, das Bett abzuziehen und die Tücher und Bezüge zusammenzufalten. Sie öffnete das Fenster, und als die kalte Luft hereinströmte, bemerkte sie erst, wie stickig es in dem Zimmer war. Da sie um die Gesundheit ihres Vaters besorgt gewesen war, hatte sie das Fenster ab Oktober immer geschlossen gehalten. »Das wird die Spinnweben fortblasen«, hatte er immer gesagt, wenn sie es dann im Mai wieder öffnete. Nachdem sie das Bettzeug zu einem kleinen Stapel zusammengelegt hatte, nahm sie den Papierkorb und warf all die Fläschchen, Pillen und Tablettenfolien zusammen mit der Karaffe und dem Glas hinein. Die Bibel schlug sie zu und stellte sie anschließend ins Bücherregal.

Sie arbeitete mechanisch und machte sich keine Illusionen, daß ihre Aktivität die Situation irgendwie erleichtern oder verändern würde. Aber (was das betraf, hatte der Sozialarbeiter recht) als sie damit fortfuhr, eine einfache Aufgabe nach der anderen zu erledigen, entwickelte sie ihren eigenen Schwung, und sie wurde sich darüber klar, daß dieses Vorgehen sie zumindest ein klein wenig tröstete. Und, was noch wichtiger war, es erleichterte ihr die Phase, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte, die erste Zeit allein in der Mortimer Street.