David mußte lächeln. Er verkürzte den Abstand zwischen ihnen noch ein wenig mehr und ließ seinen Blick mit einer derartig liebevollen Freundlichkeit auf ihr ruhen, daß sie in Tränen ausbrach; Dann streckte er die grünen, tweedgekleideten Arme aus und zog sie an sich.
»Oh...«, hauchte Dierdre. Hoffnung und Ungläubigkeit schimmerten gleichermaßen in ihren Augen. »Ich habe nicht... ich habe es nicht gewußt... ich habe es nicht verstanden ...«
Sie weinte, und dann kamen kleine Seufzer der Freude. Sunny, der sich große Sorgen um sie machte, begann zu jaulen. »Ist ja schon gut.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und streichelte ihn. »Es ist alles in Ordnung.«
»Ich wußte gar nicht, daß du einen Hund hast.«
»Das ist eine lange Geschichte. Soll ich sie dir erzählen? Vielleicht, während wir Tee trinken...« Sie wandte sich zur Tür um, aber David zog sie zurück.
»Einen Moment noch. Ich habe schon so lange darauf gewartet. Wir können noch für den ganzen Rest unseres Lebens Tee miteinander trinken.« Und dann küßte er sie.
Sie kuschelte sich wieder an seine Schulter, und seine Arme umschlossen sie. Es waren keine weißen Arme mit langen Federn, und er war sicher auch keine dreieinhalb Meter groß, aber das Gefühl war so erhebend angenehm, daß es Dierdre einen Moment lang so schien, als sei sie von eng eingerollten Schwingen umgeben.
Rosa saß mitten in Reihe D und war enttäuscht. Sie hatte erwartet, daß bei dem Vorsprechtermin für Wanja eine besondere »Atmosphäre« herrschen würde. Sollte das unerwartete Ableben des Hauptdarstellers der Truppe das übliche Prozedere nicht in irgendeiner Weise verändern? Vielleicht durch gesenkte Stimmen; ein kleines Zögern, sich selbst für die so plötzlich frei gewordene Titelrolle anzubieten. Aber nein, alles war so wie immer. Die Schauspieler gingen auf die Bühne und verließen sie wieder, während Harold Hof hielt und Dierdre an ihrem Tisch saß. David Smy saß neben seinem Vater in der letzten Reihe und hatte eine merkwürdige Promenadenmischung auf den Knien, und Kitty, die sich einen Spaß daraus gemacht hatte, so zu tun, als ginge sie Rosa voller Angst aus dem Weg, hatte sich jetzt an den Proszeniumsbogen gelehnt und schmollte. Sie war nicht zum Vorlesen hergekommen, sondern um einen netten kleinen Plausch mit Nicholas zu halten, aber der war gerade in eine Unterhaltung mit Joyces prächtiger Tochter vertieft.
Joyce selbst, die hoffte, die Rolle der Marie, der älteren Krankenschwester, zu bekommen, wartete mit Donald Everard in den Kulissen. Clive hatte sich zum Erstaunen aller beherzt auf die Bühne gewagt, um sich am Teljigin zu versuchen. Boris, der gerade Astrows Monolog »Ein ideales Leben« vorgetragen hatte, trank von dem Hauswein, und Riley saß auf Averys Arm und warf dem Hund in der letzten Reihe giftige Blicke zu, um deutlich klarzustellen, daß er um sein Revier kämpfen würde.
Als Clive fertig war, trat Cully Barnaby vor, um die Jeliena Andrejewna zu sprechen, und Rosa setzte sich auf. Es gab keinen Grund, wieso das Kind es nicht versuchen sollte. Es war nicht zu leugnen, daß sie sehr viel näher an dem Alter der Figur war (sechsundzwanzig) als Rosa, und auch nicht, daß sie es als Jüngere sehr viel leichter auf der Bühne haben würde. Dennoch... Rosa lehnte sich wieder ein wenig zurück und wartete voller Unbehagen.
»Du stehst am Fenster«, rief Harold. »Du öffnest es und redest, während du nach draußen siehst. Ab >Mein Liebster, verstehst du denn nicht.. .< Seite zwei, Zeile fünf.«
Dann bewegte sich Cully, aber nicht, wie Rosa es erwartet hatte, zu dem Fenster hinten an der Bühne (das immer noch von Amadeus dastand), sondern direkt auf die Bühnenrampe zu, wo sie sich an eine imaginäre Wand lehnte und ihrem hübschen Gesicht den Ausdruck ängstlicher Melancholie gab. Sie fing mit einer vollen, klaren Stimme zu sprechen an, die so intensiv wie ein Schmerz war und nicht diesen melodischen Tschechow-Ton hatte, den man bei der CADS für angemessen hielt. Ihre Wut floß mächtig und bitter in das Auditorium. Rosa war erschüttert. Sie fror bis ins Mark und konnte deutlich spüren, wie ihr Herz von seinem Platz sprang und gegen ihre Rippen schlug.
Aber Cully war noch nicht ganz in ihrem Monolog, als zwei Männer in der Schwingtür unter dem Ausgangsschild erschienen und verhalten den Gang hinunterkamen. Ihre Schritte waren so gleichmäßig (weder schnell noch langsam), und der jüngere Mann paßte sich dem Verhalten des älteren derart genau an, daß in ihrem plötzlichen Erscheinen etwas beinahe Komisches lag. Der Auftritt dieses Paares hätte gut in eine Musikkomödie gepaßt. Allerdings nur, bis man ihnen in die Gesichter sah.
Cully zögerte, las noch eine Zeile, hielt dann inne und sagte: »Hallo, Dad.«
»Also wirklich, Tom...« Harold stand auf. »Ausgerechnet jetzt. Wir haben einen Vorsprechtermin. Ich hoffe, es ist wichtig.«
»Sogar sehr. Wo wollen Sie hin?« Tim war von seinem Sitz aufgestanden.
»Ich will Wein holen.«
»Würden Sie sich bitte wieder setzen. Was ich zu sagen habe, wird nicht lange dauern.« Tim setzte sich. »Könnten alle, die auf der Bühne oder in den Kulissen sind, nach vorn kommen. Dann muß ich mir nicht den Hals verrenken.«
Nicholas, Dierdre, Joyce und Cully kletterten von der Bühne herunter. Donald Everard folgte ihnen und glitt auf den Stuhl neben seinem Zwillingsbruder. Der junge Polizeibeamte in dem Regenmantel setzte sich auf eine Stufe der kleinen Treppe, die zur Bühne führte, und Barnaby ging bis zum Durchgang am Ende der Reihe A, drehte sich um und sah sie alle an. Sogar Harold schwieg, wenn auch nicht für lange, und Nicholas, so unschuldig er auch sein mochte, dachte: Das war’s. Das Gefühl der Angst war so ausgeprägt, daß ihm beinah übel davon wurde.
Barnaby begann: »Ich halte es nur für angemessen, Sie über den derzeitigen Stand der Ermittlungen im Falle Carmichael zu informieren.« Was für ein Hohn, dachte sich Boris. Als würde die Polizei jemals die Verdächtigen auf dem laufenden halten. Tom wurde etwas lauter. »Und falls Sie es mir gestatten, möchte ich gern einen Moment über den Charakter des Ermordeten sprechen. Ich war immer schon der Meinung, daß die genaue Untersuchung der Persönlichkeit des Opfers in einem Fall wie diesem der erste Schritt sein muß. Abgesehen von rein zufälligen, sozusagen unpersönlichen Morden, wird ein Mann oder eine Frau gewöhnlich für etwas umgebracht, was die jeweilige Person gesagt oder getan hat oder wovon der Mörder glaubt, diese Person hätte es gesagt oder getan. Mit anderen Worten, aufgrund ihrer Persönlichkeit oder ihres Charakters.«
»Nun, ich hoffe, wir werden nicht allzuviel Zeit dafür vergeuden müssen«, unterbrach ihn Harold. »Wir wissen doch alle, was für eine Sorte Mensch Esslyn war.«
»Tatsächlich? Ich kenne bisher nur die verbreitete Auffassung, der ich selbst ja auch zugestimmt habe. Warum auch nicht? Bisher hatte ich keinen Grund, mich eingehender damit zu beschäftigen. Oh ja, wir alle haben Esslyn gekannt. Er war enorm überspannt und eitel, und er hatte einen starken Willen; er war egoistisch und ein Frauenheld. Aber als ich versucht habe, mehr über seinen Charakter in Erfahrung zu bringen, habe ich herausgefunden, daß da nichts war - kein Charakter, keine Persönlichkeit. Natürlich gab es das äußere Erscheinungsbild. Bestimmte narzißtische Gesten und die Züge eines Casanovas, aber dahinter... nichts. Nun, woran könnte das wohl liegen?«
»Er war eben oberflächlich. Manche Menschen sind einfach so«, entgegnete Avery.
»Vielleicht. Aber in jedem Menschen steckt mehr als nur das, was er uns nach außen hin zeigt. Also habe ich Fragen gestellt, mir die Antworten angehört, und ich habe meine eigenen Eindrücke genauer untersucht, wobei langsam ein ganz anderes Bild entstanden ist. Vielleicht könnten wir uns zunächst einmal der Frage seines Verhältnisses zu Frauen zuwenden. Es besteht gar kein Zweifel daran, daß er geliebt worden ist, und von einer sogar sehr.« Sein Blick fiel auf Rosa, und ihr Mund verzog sich zu einer schmalen, beherrschten Linie. »Sie hat ihn so genommen, wie er war. Oder jedenfalls hat sie ihn als das akzeptiert, wofür sie ihn gehalten hat.«