Judy war nicht glücklich. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie nicht mehr glücklich, nicht mehr so unbeschwert und frei wie ein behütetes und von beiden Elternteilen geliebtes Einzelkind gewesen. Doch das Elend von Barbara und ihrem Vater tröstete sie über manches hinweg. Und dann war da noch Michael Lacey. Vielmehr er war nicht für sie da, und er würde es auch niemals sein - das mußte sie sich immer und immer wieder sagen, wenn sich das kleine Würmchen Hoffnung in ihr Herz schlängelte. Nicht nur weil er viel zu gut aussah (selbst noch nach seinem Unfall war sein Gesicht wunderschön), sondern auch wegen seiner Arbeit. Ein Maler mußte frei sein. Erst letzte Woche hatte er ihr erzählt, daß er auf Reisen gehen wollte, um in Venedig, Florenz und Spanien zu studieren. Ihr entfuhr ein gequälter Schrei: »Wann, wann?«, aber er erwiderte nur mit einem Achselzucken: »Eines Tages ... bald.« Seit ihrer Verlobung war seine Schwester Katherine kaum noch zu Hause, und Judy ging manchmal zu seinem Cottage, räumte auf, putzte ein bißchen und kochte ihm Kaffee. Nicht zu oft. Sie versuchte, ihre Besuche zu dosieren, in der Hoffnung, daß er sie dann hin und wieder vermissen würde.
Vor zwei Wochen hatte er ihren Arm genommen und sie zum Fenster geführt, einen Finger unter ihr Kinn gelegt und ihr Gesicht eingehend gemustert. »Ich möchte dich malen. Du hast faszinierende Augen«, sagte er in sachlichem Ton, als wäre er ein Bildhauer und sie ein vielversprechender Steinklumpen, aber Judys Herz schmolz dahin, und ihre Träume nahmen eine neue Dimension an. Er hatte nie wieder davon gesprochen. Erst neulich war sie abends zu seinem Cottage gegangen und hatte durchs Fenster gesehen, daß er arbeitete. Sie war wieder weggeschlichen, weil sie nicht den Mut aufbrachte, ihn zu stören. Seither war sie nicht mehr bei ihm gewesen - sie fürchtete, daß sie seine Geduld mit einem unerwünschten Besuch zu sehr auf die Probe stellen und das herbeiführen könnte, was für sie der furchtbarste Schicksalsschlag wäre: die endgültige Zurückweisung.
Trevor Lessiter faltete die Zeitung zusammen und musterte verstohlen seine Tochter, die wie immer meilenweit von ihm entfernt war. Er fragte sich, woran sie wohl dachte und wie es möglich war, daß man jemanden, den man täglich sah, so sehr vermissen konnte. Er war froh, daß sie sich trotz der Anspielungen seiner Frau nicht dazu hatte verleiten lassen, eine Wohnung in Pinner zu mieten, »um näher an der Arbeitsstelle zu sein«. Judy tat nichts mehr im Haushalt. Sie, die immer so stolz darauf gewesen war, wenn sie die Sachen ihrer Mutter polieren und die Zimmer mit hübschen Blumenarrangements verschönern konnte. Jetzt blieb alles liegen, was Mrs. Holland in ihrer Arbeitszeit nicht schaffte. Und wann immer er und Barbara zankten (beinahe ständig, wie es schien), sah er ein zufriedenes Leuchten in Judys Augen - das verletzte ihn tief. Er wußte, daß sie dachte: Geschieht ihm recht. Er richtete den Blick auf seine Frau, sah die schweren Brüste und die schmale Taille, und ihm wurde schwindlig vor Lust. Er empfand keine Liebe. Jetzt war ihm klar, daß er sie nicht mehr liebte, und er zweifelte sogar daran, daß er es überhaupt je getan hatte. Aber sie hatte Macht über ihn. Große Macht. Wenn er nur mit Judy darüber reden und ihr verständlich machen könnte, daß er zu dieser Ehe gedrängt, ja fast überlistet worden war. Jetzt, da sie selbst verliebt war, würde sie es sicherlich eher verstehen. Aber er schreckte vor einem solchen Versuch zurück. Junge Menschen waren unzugänglich, wenn es um die Sexualität ihrer Eltern ging, und ein Gespräch darüber konnte ihre Gefühle verletzen. Zudem rief ihre auffällige Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit eine ähnliche Reaktion in ihm hervor. Vor ein paar Jahren hätte er so etwas nicht für möglich gehalten.
Er erinnerte sich, wie sie nach dem Tod ihrer Mutter jedesmal auf ihn gewartet hatte, wenn er abends von Patienten gerufen worden war, daß sie ihm Kakao gekocht und neben ihm gesessen hatte, bis sie sicher sein konnte, daß er auch wirklich alles ausgetrunken hatte. Sie hatte Anrufe entgegengenommen, alles zuverlässig notiert und sich die Klagen der Patienten so geduldig angehört, wie es seine erste Frau getan hatte. Als er jetzt ihr trauriges, düsteres Gesicht betrachtete, übermannte ihn das Gefühl, etwas sehr Wertvolles weggeworfen und durch Talmi ersetzt zu haben.
Barbara Lessiter spürte das zusammengeknüllte Papier in der Tasche, wenn sie sich bewegte. Zum millionsten Mal in fünf Minuten fragte sie sich, woher sie, um alles in der Welt, fünftausend Pfund nehmen sollte.
3
»Wohin jetzt, Sir?«
»Da wäre Mrs. Quine in Burnham Crescent...«
»Ich dachte, die anderen übernehmen die Mietshäuser.«
»Diese Frau befrage ich selbst, sie ist Miss Simpsons Putzfrau. Dann ist da noch dieser erschreckend elegante Bungalow und die vier Cottages - und Traces Farm. Oder eher Tye House.«
»Die sind wohl was Besseres, oder? Die Creme der Gesellschaft?«
»Ich komme ganz gut auch ohne derartige Bemerkungen zurecht, Troy. Behalten Sie Ihre Weisheiten für sich und machen Sie dafür Augen und Ohren auf.«
»In Ordnung, Chief.«
»Und seien Sie schreibbereit. Wir fangen im Farmhaus an und arbeiten uns langsam weiter vor.«
Über der Tür zum Haupthaus befand sich ein Oberlicht mit hübschem, weißgestrichenem Schmiedeeisengitter. Die Magnolien standen in voller Blüte, große, wachsartige Kelche und dunkelgrünes Laub drängten sich gegen die Fenster. Sergeant Troy zog an der Klingelschnur, und weit entfernt im Haus schlug eine Glocke an. Barnaby überlegte, ob es in der Küche ein verglastes Mahagonikästchen mit Lampen gab, die aufleuchteten, wenn in einem der Zimmer jemand auf einen Klingelknopf drückte. Frühstückszimmer. Wäschekammer. Servierraum. Kinderzimmer.
Niemand öffnete die Tür.
»Das Mädchen muß Ausgang haben«, schnaubte Troy verächtlich - diesen Kommentar konnte er sich einfach nicht verkneifen. Er folgte Barnaby um die Hausecke und kämpfte gegen unerfreuliche Erinnerungen an. Seine Mutter mußte früher immer ihre Schürze ablegen, bevor sie Besuchern die Tür öffnete. Und ihr Kopftuch. Er sah sie vor sich, wie sie vor dem Spiegel in der Halle nervös an ihrem Haar zupfte und ihren Kragen glättete. >Mrs. Willows möchte Ihnen Ihre Aufwartung machen, Mylady.<
Sie kamen in einen gepflasterten Hof, und ein kleiner, klapperdürrer Hund mit ergrauter Schnauze und scheckiger Brust lief auf sie zu. Es war ein alter Jack Russell, und seine Augen waren nicht mehr sehr gut. Erst als er den beiden Männern schon ziemlich nahe war, entdeckte er seinen Irrtum. Troy bückte sich, um den Hund zu streicheln, aber das Tier drehte sich um und trottete betrübt davon. Barnaby ging auf die Hintertür zu. »Vielleicht haben wir hier mehr Glück.«
Die Tür stand weit offen, dahinter befand sich die riesige Küche. Ein Mann saß an dem Eßtisch; er hatte niedergeschlagen den Kopf in die Hände gestützt und ließ seine Schultern sinken. Dicht neben ihm lehnte mit dem Rücken zu Barnaby ein junges Mädchen an der Tischkante. Barnaby sah, daß sie sich vorbeugte und die Schulter des Mannes berührte. Er ergriff mit einer heftigen Bewegung ihre Hand und hob den Blick. In diesem Moment entdeckte er die beiden Männer vor der Tür und sprang auf. Das Mädchen wandte ihnen weit weniger hastig das Gesicht zu.