Warum »arme Annabella«? Er trank einen Schluck Kaffee und beobachtete aus den Augenwinkeln eine Spinne, die sich beim Herunterlassen von der Decke hin-und herschwang. War Annabella im wahrsten Sinne des Wortes arm, also mittellos? Moralisch auf Abwege geraten? Tot? Barnaby dachte über all die Menschen nach, die eine achtzigjährige Frau in ihrem langen, erfüllten Leben kennengelernt haben mochte. Und über die Schicksale, von denen sie gehört oder gelesen hatte. Er seufzte, nahm noch einen Bissen von seinem Sandwich und sah den Tatsachen ins Auge. Weiß der Teufel, wer diese Annabella war, diese Spur führte ihn sicher nicht weiter.
»Kann ich irgend etwas tun, Sir?« fragte Troy.
»Ja.« Barnaby trank den Kaffee ganz aus. »Fahren Sie mich zum Echo. Ich möchte den Artikel über Bella Traces Tod lesen.«
»Sie glauben doch nicht, daß es da eine Verbindung gibt, oder?«
»In diesem Stadium glaube ich noch gar nichts. Aber es ist auch ein unnatürlicher Tod in einem kleinen Dorf, und involviert waren all diejenigen, die wir auch jetzt als Verdächtige ansehen müssen. Das dürfen wir nicht außer acht lassen. Also - trinken Sie Ihren Tee aus, und halten Sie die Augen offen.«
Im Keller unter den Büros des Causton Weekly Echo sprach Barnaby mit einem alten Mann, der ebenso zum Inventar zu gehören schien wie die alten grünen Aktenschränke und rostigen Wasserleitungen, die über die hintere Wand verliefen. Außerdem war da noch ein riesiger Boiler, der im Moment nicht eingeschaltet und ganz still war.
Barnaby bat darum, die Ausgaben vom September und Oktober des letzten Jahres einsehen zu dürfen. Der alte Mann schlurfte zu den Aktenschränken und wieder zurück. Er sagte kein Wort und nahm nicht einmal die locker gedrehte, unangezündete Zigarette aus dem Mundwinkel. Ein paar Tabakkrümel fielen auf die Zeitungen, als er sie Barnaby übergab. Barnaby nahm sie mit zu einem Stehpult am Fenster. Das Licht, das durch die dicken Milchglasscheiben fiel, war spärlich, und man hörte von oben die Schritte hin-und herlaufender Menschen. Barnaby blätterte die ersten beiden Ausgaben durch. In der dritten fand er den ausführlichen Bericht über die gerichtliche Untersuchung über Bella Traces Tod, er nahm mehr als eine halbe Seite ein.
Die Jagdgesellschaft war recht klein gewesen: Henry Trace, David Whiteley (der taktvoll, aber überflüssigerweise als Assistent von Mr. Trace bezeichnet wurde), Doktor T. Lessiter, der Freund und Hausarzt von Mr. Trace, Mrs. Trace, Miss Phyllis Cadell und zwei Nachbarn, George Smollett und Frederick Lawley; außerdem waren noch zwei Treiber, Jim Burnet, ein Farmersjunge, und Michael Lacey, ein junger Freund der Familie, dabei.
Mrs. Trace stand offenbar ein paar Meter von den anderen entfernt, als das Unglück geschah. Wie immer in solchen Fällen waren die Aussagen verwirrend und widersprüchlich. Doktor Lessiter meinte, sie sei gestolpert und im Fallen begriffen gewesen, als der Schuß losging, und deutete damit an, daß sie auf ihr Gewehr gestürzt war. Sie war schon vorher über eine Wurzel gestolpert. Der Doktor räumte jedoch ein, daß dieser erste Zwischenfall möglicherweise seine Sichtweise beeinflußt haben könnte. Michael Lacey behauptete, zuerst den Schuß gehört zu haben, aber nach näherer Befragung des Coroners schien er sich dessen nicht mehr ganz so sicher zu sein. Der Rest der Gruppe hatte nichts gesehen und war erst aufmerksam geworden, als Mrs. Trace bereits auf dem Boden lag. Mr. Trace, der verzweifelt versuchte, zu seiner Frau zu kommen, wendete seinen Rollstuhl zu schnell und kippte um. Die Hunde sprengten in alle Richtungen; es herrschte ein vollkommenes Chaos. Michael Lacey, der zu der Zeit Mrs. Trace am nächsten war, rannte zu ihr, erhielt aber Anweisungen vom Doktor, die verletzte Frau nicht anzurühren, sondern lieber loszulaufen und einen Krankenwagen zu rufen.
Allen Anzeichen nach lag Mrs. Trace, wie Doktor Lessiter aussagte, bereits im Sterben, als er zu ihr kam. Niemand konnte mehr etwas für sie tun. Sie sagte nichts mehr; sie hatte sofort das Bewußtsein verloren und starb einige Augenblicke später. Bei der Autopsie wurden einige technische Details festgestellt, die in dem Zeitungsartikel zur Sprache kamen: zum Beispiel der Einschußwinkel, der Schußkanal durchs Herz und die Lage der Austrittswunde. Ein Wirbel wurde durchschlagen und zersplittert. Doktor Lessiter und Mr. Trace ließen bei ihrer Aussage keinen Zweifel daran, daß alle Mitglieder der Jagdgesellschaft - mit Ausnahme von Jim Burnet
- entweder hinter oder links von Mrs. Trace postiert gewesen waren und demzufolge den tödlichen Schuß nicht abgefeuert haben konnten. Jim, der vorausgegangen war, hatte knappe dreißig Meter rechts von ihr gestanden und kam als Todesschütze auch nicht in Frage. Beide Treiber gingen auf Mr. Traces Anweisung später noch einmal zur Unglücksstelle, um nach der Patronenhülse zu suchen, aber ihre Mühen waren vergebens - in dem dichten Unterholz konnten sie nichts finden. Der Coroner sprach dem Mann, der seine Frau auf so tragische Weise verloren hatte, sein Beileid aus und entschied, daß es sich um einen Unfalltod gehandelt hatte.
Barnaby las den Artikel ein zweites Mal. Er war klar und deutlich formuliert, und alles erschien ganz logisch, trotzdem hatte der Chief Inspector ein ungutes Gefühl. Irgend etwas, was nicht offen zutage trat, störte ihn.
Er reichte dem ausgemergelten Archivar die Zeitungen - der Alte schien nicht das geringste Interesse daran zu haben, sie wieder in Gewahrsam nehmen zu können, und wirkte noch gleichgültiger als vorhin. Barnaby zeigte ihm seine Dienstmarke. »Ich hätte gern eine Fotokopie von diesem Artikel«, sagte er und kreiste mit seinem Stift rasch die Überschrift ein.
»He!« Der Greis erwachte versehentlich zum Leben. »Das können Sie nicht machen. Das ist ein Stück aus unserem Archiv!«
»Ach ja?« Barnaby betrachtete ernst den Kreis und schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, was aus dieser Welt geworden ist. Ich lasse die Kopie um vier Uhr abholen, wenn es Ihnen recht ist.«
6
Als Troy durch die Church Lane fuhr, fiel dem Chief Inspector auf, daß das Bienenstock-Cottage schon jetzt ein wenig vernachlässigt wirkte. Die Pflanzen streckten bereits ihre Triebe über den Weg, die Vorhänge hingen schlaff und unbeweglich vor den Fenstern. Wellington lag vor Miss Bellringers Haus an der Wand und schlug gelegentlich mit einer Pfote nach den Schmetterlingen.
Gegenüber vom Rastplatz, wo die Häuserreihe endete, stand ein Wegweiser: Gessler Tye - eine Meile. Der Weg war relativ breit, und man sah deutlich Reifenspuren auf dem Untergrund. Barnaby gab seinem Sergeant mit einer Geste zu verstehen, daß er weiterfahren solle, und Troy lenkte den Wagen vorsichtig zwischen die Wiesenränder.
»Zum Glück sind wir nicht mit dem Rover unterwegs, Sir.«
»Wenn wir im Rover säßen«, versetzte Barnaby knapp, »hätte ich Sie kaum gebeten, das zu versuchen.« Das Hühnchen-Kresse-Sandwich konnte sich in seinem Magen offenbar nicht gegen Mrs. Rainbirds kalorienreiche Kost durchsetzen, der Tumult schien immer schlimmer zu werden - und er hatte seine Tabletten im Büro vergessen!
»Wahrscheinlich nicht, Sir.« Sergeant Troy fand, daß Barnaby ein passender Name für jemanden war, der sich ständig wie ein gereizter Brummbär aufführte, und stellte sich vor, wie er selbst in ein paar Jahren seinem Sergeant auf ähnliche Art und Weise die Hölle heiß machen würde. Er fuhr durch eine Lücke im Gebüsch und blieb auf einem holprigen Platz stehen. Beide Männer stiegen aus.
Unheimlich, dachte Troy, als er das Holly Cottage zum erstenmal sah. Es war grau und schmucklos und hockte wie eine bucklige Kröte am Waldrand. Trotz des schwülwarmen Wetters lief ihm ein Schauer über den Rücken. Man konnte sich gut vorstellen, daß jeden Augenblick eine Hexe aus der Tür schlich und Hänsel und Gretel verschlang. Wirklich wie bei den Grimms, dachte Troy und grinste über diesen klugen Vergleich. Er überlegte, ob er Barnaby seine Erkenntnis mitteilen sollte, entschied sich aber dagegen. Der heutige Tag war ohnehin schon verkorkst genug.