Mit einem Mal öffnete sich eine tiefe, ovale Mulde zwischen den Abhängen vor ihnen. Ihre Seiten waren steil, doch lange nicht so gefährlich, wie die des engen Weges, auf dem sie sich befunden hatten. Am hinteren Ende der Mulde lag die Quelle des Baches. Perrins scharfe Augen machten einen Mann mit dem Haarknoten eines Schienarers aus, der zu ihrer Linken oben im Geäst einer Eiche saß. Wäre der Ruf eines roten Hähers erklungen statt eines Blaufinken, dann wäre er dort oben nicht allein und der Weg in die Mulde blockiert gewesen. Eine Handvoll Männer konnte diesen Eingang gegen eine ganze Armee verteidigen. Falls eine Armee kam, würde tatsächlich eine Handvoll Männer so etwas vollbringen müssen.
Unter den Bäumen am Rand der Mulde standen Blockhütten so gut verborgen, daß die um die Lagerfeuer versammelten Männer zunächst schutzlos am Boden zu sitzen schienen. Weniger als ein Dutzend waren zu sehen. Und außerhalb ihres Gesichtsfeldes befanden sich auch nicht viel mehr; das wußte Perrin. Die meisten blickten sich um, und einige winkten, als sie den Hufschlag hörten. Die Mulde war voll vom Geruch der Pferde und Männer, des in den Kesseln brutzelnden Essens und des lodernden Holzes. Eine lange, weiße Flagge hing schlaff von einem hohen Mast in der Nähe. Eine Gestalt, die mindestens noch einmal alle anderen um die Hälfte überragte, saß auf einem Baumstamm und war ganz in ein Buch vertieft, das klein in zwei riesigen Händen lag. Die Aufmerksamkeit dieser Gestalt konnte offensichtlich nichts ablenken, nicht einmal der Ruf der einzigen anderen Person ohne einen Haarknoten: »Also habt ihr sie gefunden, ja? Ich dachte, diesmal braucht Ihr noch die Nacht über.« Es war die Stimme einer jungen Frau, doch sie trug den Mantel und die Hosen eines Mannes und hatte die Haare kurz geschnitten.
Ein Windstoß fuhr in die Mulde, ließ die Umhänge flattern, und die Flagge blähte sich zur vollen Länge. Einen Augenblick lang schien es, als ritte das Wesen darauf auf dem Wind mit: eine vierbeinige Schlange mit goldenen und blauen Schuppen, einer goldenen Löwenmähne und fünf goldenen Klauen an jedem Fuß. Eine legendäre Flagge. Die meisten Männer würden sie gar nicht erkennen, aber wenn sie ihren Namen hörten, würden sie ihn fürchten.
Perrin umfaßte das alles mit einer ausschweifenden Handbewegung, während er sie hinunterführte. »Willkommen im Lager des Wiedergeborenen Drachen, Leya.«
2
Saidin
Mit ausdruckslosem Gesicht sah die Tuatha'an-Frau die Flagge an, die bald wieder schlaff am Mast hing, und dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit denen zu, die um die Feuer herum saßen. Besonders derjenige erregte ihre Aufmerksamkeit, der las und noch einmal um die Hälfte größer und mächtiger war als Perrin. »Ihr habt einen Ogier dabei. Das hätte ich nicht gedacht...« Sie schüttelte den Kopf. »Wo ist Moiraine Sedai?« Das Drachenbanner schien für sie gar nicht zu existieren.
Perrin deutete auf die am weitesten oben stehende Blockhütte am anderen Ende der Mulde. Die Wände und das Satteldach waren aus unbeschälten Baumstämmen roh zusammengezimmert, und es war die größte Hütte, wenn auch immer noch nicht sehr groß. »Das ist ihre. Für sie und Lan. Er ist ihr Behüter. Wenn Ihr etwas Heißes zu trinken bekommen habt... «
»Nein. Ich muß Moiraine sprechen.«
Es überraschte ihn nicht. Alle Frauen, die sich hierher verirrten, wollten sofort und unter vier Augen mit Moiraine sprechen. Die Neuigkeiten, die Moiraine ihnen dann später mitteilte, klangen nicht immer besonders wichtig, aber die Frauen wirkten eben immer wie ein Jäger, der dem letzten Kaninchen auf der Welt auflauert, damit seine verhungernde Familie etwas zu essen hat. Die halberfrorene Bettlerin hatte Decken und einen Teller heißen Eintopf abgelehnt und war statt dessen barfuß durch den immer noch fallenden Schnee zu Moiraines Hütte gestapft.
Leya glitt aus dem Sattel und übergab Perrin die Zügel. »Sorgt Ihr dafür, daß sie gefüttert wird?« Sie tätschelte die Nase ihrer scheckigen Stute. »Piesa ist es nicht gewohnt, mich durch so rauhes Gelände zu tragen.«
»Viel Futter haben wir nicht«, antwortete Perrin, »aber sie bekommt, soviel wir ihr geben können.«
Leya nickte und eilte wortlos den Hang hinauf. Sie raffte ihren leuchtend grünen Rock, und hinter ihr wehte der blaubestickte, rote Umhang her.
Perrin schwang sich aus dem Sattel und unterhielt sich kurz mit den Männern, die vom Feuer aufstanden, um sich um die Pferde zu kümmern. Er gab seinen Bogen dem, der Traber mitnahm. Nein, außer dem einen Raben hatten sie nichts Auffälliges bemerkt — nur die Berge und die Tuatha'an-Frau. Ja, der Rabe war tot. Nein, sie hatte ihnen nichts über die Ereignisse außerhalb der Bergländer erzählt. Nein, er hatte keine Ahnung, ob sie bald abreisen könnten.
Oder überhaupt jemals, fügte er für sich selbst hinzu. Moiraine hatte sie den ganzen Winter hier verbringen lassen. Die Schienarer glaubten wohl nicht, daß sie hier die Befehle gab, aber Perrin wußte, daß die Aes Sedai irgendwie immer ihren Willen durchsetzten. Und ganz besonders Moiraine.
Sobald die Pferde in die Stallhütte weggeführt worden waren, gingen die Reiter zum Feuer und wärmten sich auf. Perrin warf den Umhang dankbar zurück und streckte seine Hände über die Flammen. Aus dem großen Kessel, der dem Aussehen nach in Baerlon angefertigt worden war, drangen Düfte, die ihm schon ein paar Minuten lang das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Irgend jemand hatte heute bei der Jagd Glück gehabt, wie es schien, und an einem der anderen Feuer lagen klumpige Wurzeln, die in etwa nach Zwiebeln rochen, wenn man sie röstete. Er witterte kurz und konzentrierte sich dann auf den Eintopf. Vor allem wollte er Fleisch zwischen die Zähne bekommen.
Die Frau in Männerkleidung sah Leya hinterher, die gerade in Moiraines Hütte verschwand.
»Was siehst du, Min?« fragte er.
Sie stellte sich neben ihn, und ihre dunklen Augen blickten besorgt drein. Er verstand nicht, warum sie unbedingt Hosen tragen wollte und keine Röcke. Na ja, vielleicht kannte er sie eben nur zu gut, aber er verstand nicht, wie jemand sie ansehen und lediglich einen zu gut aussehenden Jüngling erkennen konnte, und nicht die hübsche junge Frau, die sie war.
»Die Kesselflickerfrau wird sterben«, sagte sie leise. Sie sah sich nach den anderen um. Keiner war nahe genug, um zu lauschen.
Er war ruhig und dachte an Leyas weiches Gesicht. Ach. Licht! Die Kesselflicker tun niemandem etwas zuleide! Ihm war kalt, trotz der Wärme der Feuer. Seng mich, ich hätte sie nicht fragen sollen. Selbst den Aes Sedai die davon wußten, war nicht klar, was Min wirklich tat. Manchmal sah sie Bilder und Auren, die Menschen umgaben, und manchmal verstand sie sogar, was sie bedeuteten.
Masuto kam und rührte den Eintopf mit einem langen Holzlöffel um. Der Schienarer schaute sie an, legte dann einen Finger neben seine lange Nase und ging grinsend wieder weg.
»Blut und Asche«, knurrte Min. »Er hat vermutlich geglaubt, wir seien ein Liebespärchen, das am Feuer Süßholz raspelt.«
»Bist du sicher?« fragte Perrin. Sie zog die Augenbrauen hoch, und er fügte schnell hinzu: »Wegen Leya.«
»Heißt sie so? Mir wäre lieber, ich wüßte nicht Bescheid. Das macht es immer viel schlimmer, etwas zu wissen und nichts dagegen... Perrin, ich sah ihr Gesicht, wie es über ihrer Schulter schwebte, blutverschmiert und mit Glotzaugen. Noch klarer kann es nicht sein.« Sie schauderte und rieb ihre Hände fest aneinander. »Licht, könnte ich nur schönere Dinge sehen. Alles Schöne scheint verschwunden zu sein.«