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Auf dem Gesicht des Kapitäns spiegelten sich sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung. Mat nahm seine Siebensachen vom Boden auf, benützte seinen Bauernspieß als Wanderstock und ging mit Thom zu der Planke hinüber. Mallia folgte ihnen verlegen echtes und erlogenes Bedauern über ihre Abreise murmelnd. Mat war sicher, daß der Mann mehr als ungern die Chance sausen ließ, sich bei seinem Hochlord Samon einzuschmeicheln, indem er ihm Einzelheiten eines Bündnisses zwischen Andor und Tar Valon verriet.

Als sich Mat und der Gaukler durch die Menge drängten, knurrte Thom: »Ich weiß, daß der Mann ein unangenehmer Typ ist, aber warum mußt du ihn immer wieder herausfordern? War es nicht genug, jeden Krümel aufzuessen, von dem er geglaubt hatte, es würde bis nach Tear ausreichen?«

»Ich habe zwei Tage lang fast nichts mehr gegessen!« Der Hunger war eines Morgens einfach weg gewesen — zu seiner großen Erleichterung. Das war so gewesen, als habe Tar Valon auch das letzte bißchen Einfluß auf ihn verloren. »Ich habe das meiste davon über Bord geworfen, und das war schwer, da ja niemand etwas merken durfte.« Wenn er diese ausgemergelten Gesichter anblickte, besonders die der Kinder, kam ihm das gar nicht mehr lustig vor. »Mallia hatte es einfach verdient, auf den Arm genommen zu werden. Wie zum Beispiel gestern dieses Schiffes wegen, das auf einer Schlammbank oder so festsaß. Er hätte beidrehen und helfen können, aber er näherte sich ihnen nicht einmal, so viel sie auch rufen mochten.« Vor ihnen lief eine Frau mit langem dunklen Haar, die wirklich hübsch gewesen wäre, wenn sie nicht so zu Tode erschöpft ausgesehen hätte. Sie blickte jeden Mann an, der an ihr vorbeikam, als suche sie jemanden. Ein Junge, der ihr bis über die Hüfte reichte, und zwei noch kleinere Mädchen klammerten sich an sie und weinten. »Dieses ganze Geschwätz von Flußpiraten und Fallen. Auf mich hat es nicht wie eine Falle gewirkt.«

Thom wich einem Karren mit hohen Rädern aus, auf den man einen Käfig mit zwei quiekenden Schweinen gebunden hatte. Dabei wäre er beinahe über einen Schlitten gestolpert, der von einem Mann und einer Frau über die Pflastersteine geschleift wurde. »Und du tust alles, um anderen Menschen zu helfen, ja? Seltsam, das muß mir doch glatt entgangen sein.«

»Ich helfe jedem, der dafür bezahlen kann«, sagte Mat standhaft. »Nur die Narren in den Geschichten machen etwas umsonst.«

Die beiden Mädchen schluchzten in den Rock ihrer Mutter hinein, während der Junge mit den Tränen kämpfte. Der Blick aus den tiefliegenden Augen der Frau ruhte einen Augenblick lang auf Mat, musterte sein Gesicht, bevor er weiterglitt. Sie sah aus, als hätte auch sie am liebsten geweint. Impulsiv griff er in die Tasche und holte eine Handvoll Münzen heraus, ohne nachzusehen, welche es waren, und drückte sie ihr in die Hand. Sie fuhr überrascht auf und blickte verständnislos auf das Silber und Gold in ihrer Hand. Dann lächelte sie und öffnete den Mund, während Tränen der Dankbarkeit ihre Augen füllten.

»Kauft ihnen etwas zu essen«, sagte er schnell und eilte weg, bevor sie etwas sagen konnte. Er merkte, daß Thom ihn ansah. »Was gaffst du mich an? Münzen kann ich schnell ersetzen, solange ich jemanden zum Spielen finde.« Thom nickte bedächtig, aber Mat war nicht sicher, ob er ihn wirklich verstanden hatte. Das verfluchte Heulen der Kinder ging mir auf die Nerven, das ist alles. Der idiotische Gaukler wird ja wohl jetzt von mir erwarten, daß ich jeder Witwe oder so Geld in die Hand drücke. Narr! Dummerweise war ihm in dem Moment selbst nicht klar, ob er letzteres auf sich selbst oder auf Thom bezogen hatte.

Er riß sich zusammen und vermied es, irgendein Gesicht lange genug anzusehen, um es wirklich wahrzunehmen. Dann fand er jedoch eines, nach dem er Ausschau gehalten hatte, am Fuß eines Landestegs. Der helmlose Soldat in rotem Rock und Brustpanzer, der die Menschen in die Stadt hineinwies, wirkte wie ein erfahrener Feldwebel, der seine Gruppe von zehn oder mehr Soldaten lange Jahre geführt hat. Wenn er in die untergehende Sonne hineinblinzelte, erinnerte er Mat an Uno, obwohl dieser hier noch beide Augen besaß. Er sah schon beinahe genauso müde aus wie die Menschen, die er einwies. »Bewegt Euch!« rief er mit heiserer Stimme. »Ihr könnt, verflucht noch mal, nicht hier stehen bleiben. Rührt Euch! In die Stadt mit Euch!«

Mat stellte sich breitbeinig vor den Soldaten und setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Verzeiht mir, Hauptmann, aber könnt Ihr mir sagen, wo ich eine anständige Schenke finde? Und einen Stall, in dem man ein gutes Pferd kaufen kann? Wir müssen morgen noch einen langen Weg zurücklegen.«

Der Soldat musterte ihn von oben bis unten, betrachtete dann Thom und seinen Gauklerumhang und dann wieder Mat. »Hauptmann? Na ja. Also, junger Mann, Ihr müßtet schon des Dunklen Königs eigenes Glück haben, wenn Ihr auch nur einen Stall findet, um darin selbst zu schlafen. Die meisten in dieser Menge schlafen irgendwo in den Büschen. Und falls Ihr ein Pferd findet, das noch nicht geschlachtet wurde, dann müßt Ihr vermutlich mit dem Besitzer darum kämpfen, damit er es überhaupt verkauft.«

»Pferde essen!« knurrte Thom angewidert. »Ist es wirklich auf dieser Seite des Flusses schon so schlimm? Schickt die Königin keine Lebensmittel?«

»Es ist schlimm, Gaukler.« Der Soldat wirkte, als wolle er ausspucken. »Sie kommen schneller herüber, als die Mühlen Mehl mahlen können oder Wagen Lebensmittel von den Bauernhöfen hierherbringen. Ich denke, es wird nicht mehr lange so gehen. Der Befehl ist bereits eingetroffen. Ab morgen halten wir jeden auf, der noch herüberkommen will, und wenn nötig, schicken wir sie zurück.« Er sah finster auf die Menschen, die sich im Hafen drängten, als sei alles ihre Schuld, und dann wandte sich dieser harte Blick wieder Mat zu. »Ihr nehmt zuviel Platz ein, Reisender. Geht weiter.« Seine Stimme erhob sich wieder zum lauten Ruf, der jedermann in Hörweite galt: »Geht weiter! Ihr könnt, verdammt noch mal, nicht hier stehenbleiben! Geht weiter!«

Mat und Thom schlossen sich dem dünnen Strom von Menschen, Karren und Schlitten an, der auf das Tor in der Stadtmauer zu und dann nach Aringill hineinfloß.

Die Hauptstraße war mit flachen, grauen Steinen gepflastert, aber so viele Menschen drängten sich darin, daß man kaum die Steine unter den eigenen Stiefeln erkennen konnte. Die meisten schienen sich ziellos einherzuschieben, und jene, die aufgegeben hatten, hockten am Straßenrand, die Glücklicheren mit ihren zusammengeschnürten Habseligkeiten vor sich oder in ihre Arme geschlossen. Mat sah drei Männer, die Uhren umklammerten, und ein Dutzend mehr mit silbernen Pokalen oder Tellern. Die Frauen hielten meist Kinder an die Brust gedrückt. Ein Gemurmel erfüllte die Luft — die wortlose Melodie der Not. Er drängte sich mit finsterer Miene durch die Menge und suchte nach dem Schild einer Schenke. Die Gebäude zeigten keinen einheitlichen Stil. Holz-, Klinker- und Natursteinhäuser standen bunt gemischt, genau wie ihre mit Schieferplatten, Ziegeln oder Stroh gedeckten Dächer.

»Das klingt gar nicht nach Morgase«, sagte Thom nach einer Weile und halb zu sich selbst. Seine buschigen Augenbrauen waren so weit zusammengezogen, daß sie wie ein weißer Pfeil auf seine Nase zielten.

»Was klingt nicht nach ihr?« fragte Mat abwesend.

»Den Flüchtlingsstrom aufzuhalten. Menschen zurückzuweisen. Sie hatte immer schon Wutanfälle, aber andererseits auch ein weiches Herz für die Armen und Hungrigen.« Er schüttelte den Kopf.

Dann sah Mat ein Schild — ›Zum Flußmatrosen‹ stand darauf, und es zeigte einen barfüßigen Burschen ohne Hemd beim Tanzen — und dorthin wandte er sich. Mit Hilfe seines Bauernspießes bahnte er sich den Weg durch die Menge. »Tja, es muß ja wohl sie gewesen sein. Wer auch sonst? Vergiß Morgase, Thom. Bis Caemlyn ist es noch weit. Zuerst sehen wir mal, wieviel Gold es uns kostet, ein Bett für die Nacht zu bekommen.«