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Die Pflastersteine auf dem Kai waren naß. In der Luft lag noch der Geruch von Regen, und das beruhigte sie ein wenig. Jetzt wurde ihr auch bewußt, daß die ewige Schaukelei schon vor einiger Zeit aufgehört hatte. Aber ihr Magen erinnerte sie noch daran. Im Westen senkte sich bereits die Sonne. Sie versuchte, nicht an Abendessen zu denken.

»Sehr gut, Kapitän Canin«, sagte sie so würdevoll, wie es ihr möglich war. Er würde nicht so reden, wenn ich meinen Ring an der Hand hätte, nicht einmal, wenn ich auf seine Hilfe angewiesen wäre. Sie schauderte bei dieser Vorstellung.

Ihr Ring mit der Großen Schlange hing nun neben dem gewundenen Steinring des Ter'Angreal an einer Lederschnur um ihren Hals. Der Steinring ruhte kühl an ihrer Haut, beinahe kühl genug, um die warme Feuchte der Luft vergessen zu machen. Aber davon einmal abgesehen, war ihr bewußt geworden, daß sie den Ring immer häufiger berühren wollte, je mehr sie den Ter'Angreal benützte. Es war wie eine Sucht, und sie mußte ihn nun auf der Haut tragen, statt in einem Beutel.

Tel'aran'rhiod zeigte ihr immer noch wenig, was sie unmittelbar verwerten konnte. Manchmal hatte sie ganz kurz Rand oder Mat oder Perrin gesehen. Allerdings tauchten sie noch öfters in ihren Träumen ohne Hilfe des Ter'Angreal auf. Einen Sinn aber ergaben diese kurzen Ausblicke nicht. Die Seanchan hatte sie auch gesehen, aber sie weigerte sich, daran auch nur zu denken. Dann waren da Alpträume gewesen, in denen sie zusehen mußte, wie ein Weißmantel Meister Luhhan als Köder in eine riesige, furchterregend gezähnte Falle steckte. Und warum trug Perrin einen Falken auf der Schulter und was war daran so wichtig, ob er sich für die Axt an seinem Gürtel oder für den Schmiedehammer entschied? Welche Bedeutung hatte der Traum, in dem Mat mit dem Dunklen König würfelte, warum rief er immer: ›Ich komme!‹, und warum glaubte sie in diesem Traum, daß er sie damit meine? Und dann Rand. Er hatte sich durch vollständige Dunkelheit zu Callandor hingeschlichen. Aber sechs Männer und fünf Frauen waren mit ihm gekommen. Ein paar davon jagten ihn, andere ignorierten ihn, ein paar versuchten, ihn zu dem leuchtenden Kristallschwert hinzugeleiten, während wieder andere ihn davon abhalten wollten, es zu erreichen. Sie schienen ihn aber überhaupt nicht sehen zu können, oder zumindest nur für ganz kurze Zeit. Einer der Männer hatte Flammenaugen, und er wünschte Rands Tod mit einer Verzweiflung herbei, die sie beinahe mit der Zunge schmecken konnte. Sie glaubte, ihn zu kennen. Ba'alzamon. Aber wer waren die anderen? Dann wieder Rand in dieser trockenen, staubigen Kammer und diese kleinen Kreaturen, die sich in seine Haut bohrten. Rand, der vor einer Horde von Seanchan stand. Rand, vor ihr und einer zweiten Frau stehend, und eine von ihnen war eine Seanchan. Es war alles viel zu verwirrend. Sie mußte aufhören, an Rand und die anderen zu denken, und sich auf das konzentrieren, was unmittelbar vor ihr lag. Was haben die Schwarzen Ajah vor? Warum träume ich nicht von ihnen? Licht, warum kann ich nicht lernen, es so zu steuern, daß ich sehe, was ich wissen will?

»Laßt die Pferde an Land bringen, Kapitän«, sagte sie zu Canin. »Ich werde es Frau Maryim und Frau Caryla mitteilen.« Das waren natürlich Nynaeve — Maryim — und Elayne — Caryla.

»Ich habe einen Mann hinuntergeschickt, um es ihnen zu sagen, Frau Joslyn. Und Eure Tiere werden an Land gebracht, sobald meine Männer einen Ladebaum freimachen können.«

Er klang wirklich erfreut darüber, daß er sie los wurde. Sie dachte daran, ihm zu sagen, er solle sich nicht beeilen, doch dann verwarf sie den Gedanken sofort wieder. Das Stampfen und Rollen des Pelikan war wohl beendet, aber sie wollte so schnell wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen haben. Jetzt gleich. Trotzdem blieb sie einen Moment stehen, und tätschelte Nebel die Nase und ließ die graue Stute an ihren Handfläche schnuppern, um Canin zu beweisen, daß es keine Eile hatte.

Nynaeve und Elayne erschienen an der Leiter von den Kabinengängen her, beladen mit ihren Bündeln und Satteltaschen. Elayne mußte außerdem noch Nynaeve fast schleppen. Als Nynaeve bemerkte, daß Egwene zusah, schob sie die helfende Hand der Tochter-Erbin von sich und ging ohne Hilfe zu der schmalen Laufplanke, die man zum Kai hinübergelegt hatte. Zwei Besatzungsmitglieder befestigten eine breite Segeltuchbahn unter Nebels Bauch. Egwene eilte hinunter, um ihre Habseligkeiten zu holen. Als sie wieder nach oben kam, befand sich ihre Stute schon an Land, und Elaynes Pferd schwebte auf halbem Weg zum Kai in der Luft.

Im ersten Moment, als ihre Füße wieder festes Land betraten, fühlte sie nur Erleichterung. Das hier stampfte und rollte nicht. Dann begann sie sich in dieser Stadt umzusehen, die zu erreichen ihnen soviel Mühe und Schmerzen bereitet hatte. Gleich hinter den langen Kais befanden sich steinerne Lagerhäuser, und eine große Anzahl von Schiffen, groß und klein, lag an den Kais oder im Fluß vor Anker. Hastig wandte sie ihren Blick von den Schiffen ab. Tear war auf einer Ebene erbaut worden, die kaum eine Erhebung aufwies. Wenn sie die schlammigen, ungepflasterten Straßen zwischen den Lagerhäusern hinunterblickte, sah sie Häuser, Schenken und Tavernen aus Holz und Stein. Ihre mit Schieferplatten oder Ziegeln gedeckten Dächer hatten eigenartige Ecken, und manche liefen sogar oben zu einer Spitze zusammen. Weiter entfernt konnte sie eine hohe Mauer aus dunkelgrauem Stein erkennen und dahinter wieder die Spitzen von Türmen mit umlaufenden Galerien, dazu die weißen Kuppeln von Schlössern. Aber die Kuppeln wirkten etwas eckig, und die Türme hatten spitz zulaufende Dächer, so wie einige der Häuser außerhalb. Alles in allem war Tear sicher ebenso groß wie Caemlyn oder Tar Valon, und wenn vielleicht nicht so schön, war es doch eine der ganz großen Städte. Doch von einem konnte sie den Blick kaum reißen: dem Stein von Tear.

Sie hatte davon in Geschichten gehört, gehört, daß es die größte und älteste Festung der Welt sei, die erste nach der Zerstörung der Welt erbaute, und doch hatte nichts sie auf diesen Anblick vorbereitet. Beim ersten Hinschauen glaubte sie noch, es sei ein mächtiger, grauer Steinhügel oder ein kleiner, kahler Tafelberg, Hunderte von Schritten lang auf jeder Seite. Er erstreckte sich vom Erinin im Westen durch die Mauer bis weit in die Stadt hinein. Selbst nachdem sie die große Flagge vom höchsten Punkt aus hatte flattern sehen — drei weiße Mondsicheln schräg über einem halb roten und halb goldenem Feld; diese Flagge befand sich in mindestens dreihundert Schritt Höhe über dem Fluß und war so groß, daß man sie ganz deutlich sehen konnte — und dann die Zinnen und Türme bemerkte, selbst dann war es schwer, den Stein von Tear als etwas von Menschenhand Erbautes zu sehen. Er sah aus, als sei er von einem Riesen aus einem Berg herausgehauen worden.

»Mit Hilfe der Macht erbaut«, murmelte Elayne. Auch sie starrte den Stein an. »Ströme des Elements Erde verwoben, um den Stein aus dem Erdboden heraufzuholen. Die Luft mußte Material aus allen Teilen der Welt herbeiholen, und Erde und Feuer gemeinsam verschweißen es zu einem großen Block ohne Spalt und ohne jedes bißchen Zement. Atuan Sedai meinte, heutzutage könnte die Burg das nicht mehr vollbringen. Seltsam, wenn man bedenkt, wie die Hochlords heute der Macht ablehnend gegenüberstehen.«

»Ich glaube«, stellte Nynaeve fest, die den Schauerleuten in ihrer Nähe beim Arbeiten zusah, »genau deswegen sollten wir gewisse Dinge nicht laut erwähnen.« Elayne schien zwischen Entrüstung — sie hatte ja schon sehr leise gesprochen — und Zustimmung hin- und hergerissen. Die Tochter-Erbin stimmte Nynaeve zu oft und allzu bereitwillig zu, und das paßte Egwene nicht.