»Führt mich zu Eurem Bruder«, befahl Moiraine, »und ich werde tun, was in meiner Macht steht. Perrin, Ihr kommt auch mit, da dieser Mann zuerst mit Euch gesprochen hat.« Lan hob eine Augenbraue, und sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir alle hingehen, erregen wir Aufmerksamkeit. Perrin kann mich beschützen, soweit das notwendig ist.«
Lan nickte zögernd und warf Perrin einen harten Blick zu. »Sieh zu, daß du sie beschützt, Schmied. Wenn ihr irgend etwas zustößt... « Seine kalten blauen Augen vollendeten die Drohung.
Simion nahm eine der Kerzen und huschte in den Flur hinaus. Dabei verbeugte er sich immer noch, so daß der Kerzenschein die Schatten an den Wänden tanzen ließ. »Hier entlang... äh... gute Frau. Hier entlang.«
Hinter der Tür am Ende des Flurs führte eine Außentreppe hinunter in eine enge Gasse zwischen Schenke und Stall. Die Nacht ließ die Kerze zu einem flackernden Lichtpunkt schrumpfen. Der Halbmond stand am sternübersäten Himmel und gab für Perrins Augen mehr als genug Licht. Er fragte sich, wann Moiraine Simion endlich sagen werde, er könne mit dem Verbeugen aufhören, doch sie sagte nichts. Die Aes Sedai glitt hinter Simion entlang, hob dabei den Rock an, damit er nicht im Schlamm schleifte, und sie wirkte, als sei sie eine Königin und schreite statt durch die Gasse durch einen Palast. Die Nachtluft kühlte sich bereits ab. In den Nächten schwang immer noch ein wenig Winter nach.
»Hier herüber.« Simion führte sie nach hinten zu einem kleinen Schuppen hinter dem Stall und schob hastig den Riegel weg. »Hier herein.« Simion deutete in den Schuppen. »Hier, gute Frau. Hier. Mein Bruder. Noam.«
Der hintere Teil des Schuppens war — offensichtlich überstürzt — mit Brettern abgeteilt worden. Es wirkte roh und improvisiert. Ein festes Eisenschloß hing von einem Riegel an der Brettertür. Durch die Spalten sah man einen Mann, der auf dem Bauch auf dem strohbedeckten Boden lag. Er war barfuß. Hemd und Hose waren zerfetzt, als habe er daran gerissen, weil er nicht wußte, wie man sie auszieht. Es roch nach ungewaschenem Fleisch, so daß Perrin glaubte, selbst Simion und Moiraine müßten den Geruch wahrnehmen.
Noam hob den Kopf und sah sie schweigend und ausdruckslos an. Es war nichts an ihm, was auf die Verwandtschaft mit Simion schließen ließ — er hatte zum einen ein richtiges Kinn und er war ein großer Mann mit breiten Schultern —, aber etwas anderes warf Perrin fast um: Noam blickte sie mit glänzendgoldenen Augen an.
»Er hat schon fast ein Jahr lang so verrückte Sachen gequatscht, gute Frau, und gesagt, daß er... mit Wölfen sprechen kann. Und seine Augen... « Simion warf Perrin einen schnellen Blick zu. »Also, er hat gequatscht, wenn er zuviel getrunken hatte. Jeder hat ihn ausgelacht. Dann, vielleicht vor einem Monat etwa, kam er nicht ins Dorf zurück. Ich bin hinausgegangen, um zu sehen, was mit ihm los war, und habe ihn so vorgefunden.«
Vorsichtig und unwillig sandte Perrin seine Gedanken zu Noam aus, wie er es bei einem Wolf gemacht hätte. Durch den Wald rennen, den kalten Wind in der Nase... Schnell aus der Deckung heraus... Die Kiefer schnappen nach den Kniesehnen. Den Geschmack von Blut auf der Zunge. Töten. Perrin zuckte wie vor einem Feuer zurück und schloß seinen Geist ab. Das waren überhaupt keine richtigen Gedanken gewesen, nur ein chaotisches Durcheinander von Wünschen und Bildern, zum Teil aus der Erinnerung, zum Teil reine Sehnsucht. Aber es war mehr Wolf als Mensch an diesem Mann. Er stützte sich mit der Hand an der Wand ab; seine Knie gaben beinahe nach. Licht, hilf mir!
Moiraine streckte ihre Hand nach dem Schloß aus.
»Meister Harod hat den Schlüssel, gute Frau. Ich weiß nicht, ob er... «
Sie zog daran und das Schloß sprang auf. Simion starrte sie mit offenem Mund an. Sie hob das Schloß aus der Haspe, und der kinnlose Mann wandte sich an Perrin.
»Ist das sicher, guter Herr? Er ist mein Bruder, aber er hat Mutter Roon gebissen, als sie zu helfen versuchte, und er... er hat eine Kuh getötet. Mit den Zähnen«, fügte er verlegen hinzu.
»Moiraine«, sagte Perrin, »der Mann ist gefährlich.«
»Alle Männer sind gefährlich«, antwortete sie mit kühler Stimme. »Jetzt seid ruhig.« Sie öffnete die Tür und ging hinein. Perrin hielt die Luft an.
Bei ihrem ersten Schritt zog Noam die Lippen hoch und begann zu knurren. Es vertiefte sich zu einem Grollen, bis sein ganzer Körper bebte. Moiraine ignorierte es. Immer noch knurrend, wand sich Noam auf dem Stroh nach hinten, als sie sich ihm näherte. Schließlich lag er in einer Ecke und konnte nicht weiter. Vielleicht hatte sie es auch gerade darauf angelegt.
Langsam und gelassen kniete sich die Aes Sedai nieder und nahm seinen Kopf in die Hände. Noams Grollen wurde zu einem wütenden Fauchen und verflog dann zu einem Winseln, bevor Perrin ihr zur Hilfe kommen konnte. Moiraine hielt seinen Kopf eine Weile lang und legte ihn dann ebenso gelassen wieder auf das Stroh zurück. Sie erhob sich. Perrins Kehle zog sich zusammen, als sie Noam den Rücken zuwandte und aus dem Käfig schritt, doch der Mann sah ihr nur einfach nach. Sie schob die Brettertür zu, hängte das Schloß wieder ein, ohne es einschnappen zu lassen — und Noam warf sich knurrend gegen die Holzbretter. Er biß hinein und drückte mit seinen Schultern dagegen, versuchte, seinen Kopf dazwischen durchzustecken, und die ganze Zeit über knurrte und schnappte er.
Moiraine wischte sich mit ruhiger Hand und vollkommen ausdruckslosem Gesicht Stroh vom Rock.
»Ihr geht schöne Risiken ein«, hauchte Perrin. Sie sah ihn mit klarem, wissendem Blick an, und er senkte die Augen. Seine gelben Augen.
Simion blickte seinen Bruder an. »Könnt Ihr ihm helfen, gute Frau?« fragte er heiser.
»Es tut mir leid, Simion«, antwortete sie.
»Könnt Ihr denn gar nichts tun, gute Frau? Irgend etwas? Eines von diesen« — seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern — »Aes-Sedai-Dingen?«
»Heilen ist keine einfache Sache, Simion, und es kommt genauso aus dem Innern des Kranken wie aus dem Heilenden. Es gibt hier nichts, was sich daran erinnert, Noam zu sein, nichts, was sich noch an eine menschliche Existenz erinnern kann. Es gibt keine Landkarten, die ihm den Weg zurück zeigen können, und es ist nichts übrig, was diesen Weg antreten könnte. Noam ist nicht mehr, Simion.«
»Er... er hat immer so komische Sachen gesagt, gute Frau, wenn er zuviel getrunken hatte. Er war nur... « Simion wischte mit der Hand über seine Augen und blinzelte Tränen weg. »Ich danke Euch, gute Frau. Ich weiß, Ihr hättet etwas getan, wenn es Euch möglich gewesen wäre.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, murmelte ein paar beruhigende Worte, und dann war sie auch schon aus dem Schuppen verschwunden.
Perrin wußte, daß er ihr folgen sollte, aber der Mann — was von einem Mann übriggeblieben war —, der nach den Brettern schnappte, ließ ihn verweilen. Er trat schnell vor und überraschte sich selbst damit, daß er das herunterhängende Schloß aus der Haspe zog. Es war ein gutes Schloß; das Werk eines echten Meisterschmieds. »Guter Herr?«
Perrin sah das Schloß in seiner Hand an und dann den Mann im Käfig. Noam hatte aufgehört, in die Bretter beißen zu wollen. Er sah Perrin mißtrauisch und schwer atmend an. Ein paar seiner Zähne waren abgebrochen.
»Ihr könnt ihn ewig hier drinnen halten«, sagte Perrin, »aber ich... ich glaube nicht, daß damit etwas besser wird.«
»Wenn er herauskommt, guter Herr, dann wird er sterben!«
»Er wird hier drinnen genauso sterben wie draußen, Simion. Draußen ist er wenigstens frei und so glücklich, wie es eben geht. Er ist nicht mehr Euer Bruder, aber es ist an Euch, zu entscheiden. Ihr könnt ihn hier drinnen halten, damit ihn die Leute anstarren und er die Bretter seines Käfigs anstarrt, bis er dahinsiecht. Ihr könnt einen Wolf nicht einsperren, Simion, und erwarten, daß er dabei glücklich ist. Oder lange lebt.«
»Ja«, sagte Simion. »Ja, das sehe ich ein.« Er zögerte und nickte in Richtung der Tür.