In dem Moment, als er sie erkannte, hob sie den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen weiteten sich erschreckt und zornig. »Ihr! Was tut Ihr hier? Wie konntet Ihr... ? Ihr werdet alles verderben — Dinge, die Ihr euch noch nicht einmal vorstellen könnt!«
Plötzlich erschien ihm der Raum flach, als betrachte er nur noch das Abbild eines Raums. Das flache Abbild drehte sich seitwärts und wurde zu einer hellen, senkrechten Kante in der Mitte der Dunkelheit. Die Kante blitzte weiß auf und war verschwunden. Zurück blieb nur die Dunkelheit, schwärzer als schwarz.
Direkt vor Perrins Stiefeln endeten die Fußbodenkacheln. Beim Zusehen noch löste sich die weiße Kante im Schwarz auf wie Sand, der vom Wasser weggewaschen wird. Er trat erschrocken zurück.
Renn!
Perrin wandte sich um, und da stand Springer, ein großer, grauer Wolf, an der Schnauze weiß vom Alter und von Narben übersät. »Du bist tot. Ich habe dich sterben sehen. Ich habe gefühlt, wie du starbst!« Wolfsgedanken fluteten durch Perrins Verstand.
Renn jetzt! Du darfst nicht mehr hier bleiben. Gefahr. Große Gefahr. Schlimmer als alle Ungeborenen. Du mußt weg! Geh jetzt! Jetzt!
»Wie denn?« schrie Perrin. »Ich will ja weg, aber wie?«
Geh! Mit gefletschten Zähnen sprang Springer Perrin an die Kehle.
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Perrin von seinem Bett hoch. Seine Hände umklammerten den Hals, um das Blut am Herausquellen zu hindern. Sie trafen auf unverletzte Haut. Er schluckte schwer vor Erleichterung, doch im nächsten Augenblick berührten seine Finger eine feuchte Stelle.
Er krabbelte aus dem Bett, stürzte noch beinahe vor Eile, stolperte hinüber zum Waschtisch und griff nach der Kanne. Als er die Schüssel füllte, verspritzte er eine Menge Wasser. Das Wasser, mit dem er sein Gesicht abwusch, färbte sich rosa. Rosa vom Blut des seltsam gekleideten Mannes.
Auf seinem Mantel und den Hosen waren weitere dunkle Flecke zu sehen. Er riß sich beides herunter und warf sie in die hinterste Ecke. Dort wollte er sie liegenlassen. Simion konnte sie verbrennen.
Ein Windstoß drang durch das offene Fenster. Er zitterte in seiner Unterwäsche vor Kälte, setzte sich auf den Fußboden und lehnte sich an das Bett. Das sollte unbequem genug sein. Seine Gedanken waren ätzend, voll Sorge und Angst. Und Entschlossenheit. Ich werde nicht nachgeben. Auf keinen Fall!
Er zitterte immer noch, als ihn endlich der Schlaf übermannte. Es war aber nur eine Art von Halbschlaf, in dem er sich noch irgendwie des Zimmers, in dem er lag, und der ihn umgebenden Kälte bewußt war. Aber die Alpträume, die er nun erlebte, waren besser als gewisse andere Träume.
Rand saß in dieser Nacht zusammengekauert unter den Bäumen und beobachtete den großen, breitschultrigen schwarzen Hund, der sich seinem Versteck näherte. Seine Seite schmerzte. Die Wunde, die auch Moiraine nicht heilen konnte... Er ignorierte den Schmerz. Der Mond warf gerade genug Licht über das Land, um den Hund zu erkennen. Er mußte ihm mit seinem massiven Schädel bis an die Hüfte reichen, und seine Zähne schimmerten wie feuchtes Silber in der Dunkelheit. Er witterte und kam langsam auf ihn zu.
Näher, dachte er. Komm näher. Diesmal wird dein Herr nicht vorgewarnt. Näher. Gut so. Der Hund war nun nur noch zehn Schritt entfernt. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle, als er plötzlich vorwärtssprang. Genau auf Rand zu.
Die Macht erfüllte ihn. Etwas entrang sich seinen ausgestreckten Händen. Er wußte nicht genau, was es war. Ein weißer Lichtbalken, so fest wie Stahl. Flüssiges Feuer. Einen Augenblick lang hing der Hund in der Mitte dieses Etwas, wurde durchsichtig und war verschwunden. Das weiße Licht verlosch, abgesehen von den tanzenden Lichtflecken vor Rands gequälten Augen. Er sackte gegen den nächsten Baumstamm. Die Rinde kratzte rauh über sein Gesicht. Erleichterung und lautloses Lachen erschütterten ihn. Es hat funktioniert. Licht, rette mich, aber diesmal hat es geklappt. Das war nicht immer so gewesen. Da waren diese Nacht bereits andere Hunde gewesen...
Die Eine Macht pulsierte in ihm, und ihm war schlecht vom Verderben des Dunklen Königs, das sich um Saidin geschlungen hatte. Er wollte sich entleeren, sich übergeben. Schweißtropfen rannen ihm trotz des kalten Nachtwinds über das Gesicht. Säure brannte scharf in seinem Mund. Er hätte sich am liebsten hingelegt und wäre gestorben. Er wünschte sich, Nynaeve würde ihm eines ihrer Medikamente geben oder Moiraine würde ihn heilen oder... Etwas, irgend etwas, um diese Übelkeit zu besiegen, die ihn erstickte.
Aber Saidin überschwemmte ihn auch mit Leben, Leben und Energie und Bewußtsein, die durch die Übelkeit hindurchdrangen. Leben ohne Saidin war nur ein schwacher Abklatsch des wirklichen Lebens. Aber sie können mich finden, wenn ich so weitermache. Meine Spuren suchen und mich finden. Ich muß Tear erreichen. Dort werde ich es herausfinden. Wenn ich der Drache bin, werde ich dem ein Ende machen. Und wenn nicht... Wenn alles nur eine Lüge ist, dann wird es ebenfalls ein Ende finden. Ein Ende.
Zögernd und unendlich langsam brach er den Kontakt zu Saidin ab, gab diese sanfte Umarmung auf, als höre er mit Atmen auf. Die Nacht erschien ihm armselig. Die Schatten verloren ihre scharf umrissenen Abstufungen und verschwammen ineinander.
In der Ferne, im Westen, heulte ein Hund. Das schaurige Heulen zerriß die Nacht.
Rands Kopf fuhr hoch. Er spähte in diese Richtung, als könne er den Hund sehen, wenn er sich nur anstrengte.
Ein zweiter Hund antwortete dem ersten, dann noch einer, zwei weitere zusammen, und alles dort draußen irgendwo westlich von ihm.
»Jagt mich«, fauchte Rand. »Jagt mich, wenn ihr wollt. Ich bin keine leichte Beute. Nicht mehr!«
Er stieß sich von dem Baum ab, watete durch einen seichten, eiskalten Bach und schritt dann gleichmäßig aus, nach Osten zu. Kaltes Wasser füllte seine Stiefel und seine Seite schmerzte, doch er ignorierte beides. Die Nacht hinter ihm war wieder ruhig, aber auch das ignorierte er. Jagt mich doch. Ich kann auch jagen. Ich bin keine leichte Beute.
10
Geheimnisse
Einen Augenblick lang vergaß Egwene al'Vere ihre Begleitung und stellte sich in den Steigbügeln auf, um einen Blick auf das ferne Tar Valon zu erhaschen. Doch alles, was sie sehen konnte, war ein verschwommener Fleck, der weiß im Sonnenschein schimmerte. Es mußte aber schon die Stadt auf der Insel sein. Der einsame Berg mit dem zerrissenen Gipfel, den man den Drachenberg nannte, war am Spätnachmittag des Vortags zuerst sichtbar geworden. Da hatten sie sich bereits auf dieser Seite des Erinin befunden. Dieser Berg, der sich wie ein abgebrochener Zahn aus der hügeligen Ebene erhob, war völlig unverkennbar. Man sah ihn auf viele Meilen im Umkreis und die Menschen mieden ihn; selbst diejenigen, die nach Tar Valon unterwegs waren.
Am Drachenberg war Lews Therin Telamon gestorben, sagte man. Noch weiteres war über diesen Berg geweissagt worden: Prophezeiung und Warnung zugleich. Genug Gründe, um sich von seinen schwarzen Abhängen fernzuhalten.
Sie allerdings hatte Gründe, ihm nicht fernzubleiben; und mehr als nur einen. Nur in Tar Valon konnte sie die Ausbildung erhalten, die sie benötigte, die sie erhalten mußte. Ich lasse mir nie wieder ein Halsband anlegen! Sie verdrängte den Gedanken, aber er kehrte in genau umgekehrter Bedeutung zurück. Ich werde nie wieder meine Freiheit aufs Spiel setzen! In Tar Valon würde Anaiya wieder damit beginnen, ihre Träume zu erforschen. Das mußte die Aes Sedai tun, obwohl sich bisher kein Beweis dafür gefunden hatte, daß Egwene zu den seltenen Träumern gehörte, wie Anaiya vermutete. Egwenes Träume waren beunruhigend gewesen, seit sie die Ebene von Almoth verlassen hatte. Ganz davon abgesehen, daß sie immer noch von den Seanchan träumte und dann schweißgebadet aufwachte, träumte sie nun mehr und mehr von Rand. Rand, der weglief. Der auf irgend etwas zurannte und gleichzeitig auch vor irgend jemandem wegrannte.