Verin sprach wohl immer noch Sheriam an, doch Egwene wußte, das letzte hatte auch ihr und den anderen gegolten. Nynaeves Augenbrauen hingen nach unten, und sie riß nun an ihrem Zopf, als müsse sie ihn für etwas bestrafen. Elaynes blaue Augen waren weit aufgerissen, und ihr Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Egwene war sich ihrer eigenen Gefühle nicht ganz sicher: Zorn oder Angst oder Sorge... Es war wohl ein Gemisch von allen dreien.
Nach einem letzten forschenden Blick auf ihre drei Begleiterinnen eilte Verin fort. Sie preßte den Sack an ihre Brust. Ihr Umhang flatterte hinter ihr her. Sheriam stützte die Fäuste in die Hüften und musterte Egwene und die anderen beiden. Einen Augenblick lang empfand Egwene so etwas wie ein Nachlassen der Anspannung. Die Oberin der Novizinnen hielt ihr Temperament stets im Zaum und bewahrte sich einen Sinn für Humor, selbst wenn sie jemandem Extraarbeiten aufbrummte, weil sie irgendwelche Regeln übertreten hatte.
Aber Sheriams Stimme klang todernst, als sie die drei ansprach: »Kein Wort, hat Verin Sedai gesagt, und dabei wird es bleiben. Falls eine von euch spricht — außer natürlich, um einer Aes Sedai zu antworten —, werde ich dafür sorgen, daß ihr euch wünscht, ihr hättet nur die Rute und ein paar Stunden Fußbodenschrubben vor euch. Versteht ihr mich?«
»Ja, Aes Sedai«, sagte Egwene, und sie hörte, wie die anderen es ihr nachsagten. Bei Nynaeve allerdings klang es wie eine Herausforderung.
Sheriam gab einen angewiderten Laut von sich. »Heute kommen weniger Mädchen als früher zur Ausbildung in die Burg, aber es kommen immer noch welche. Die meisten gehen wieder, ohne gelernt zu haben, wie man die Wahre Quelle wahrnimmt, und schon gar nicht, wie man sie berührt. Ein paar davon lernen wenigstens genug, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen, bevor sie wieder gehen. Nur eine Handvoll kann es anstreben, zu Aufgenommenen erhoben zu werden, und noch weniger, die Stola zu tragen. Es ist ein schweres Leben, das viel Disziplin erfordert, und doch bemüht sich jede Novizin, daran festzuhalten, um Ring und Stola zu erreichen. Und wenn sie auch so verängstigt sind, daß sie sich jeden Abend in den Schlaf weinen, klammern sie sich daran. Und ihr drei, die ihr größere Fähigkeiten besitzt, als ich je in meinem Leben zu finden hoffte, verlaßt die Burg ohne Erlaubnis, rennt noch nicht einmal halb ausgebildet weg, wie verantwortungslose Kinder, und bleibt monatelang fort. Und nun reitet ihr zurück, als ob nichts geschehen sei, als könntet ihr morgen mit eurer Ausbildung weitermachen wie zuvor.« Sie atmete so langgezogen aus, als müsse sie eine Explosion verhindern. »Faolain!«
Die drei Aufgenommenen zuckten zusammen, als habe man sie beim Lauschen ertappt, und eine von ihnen, mit einem dunklen Lockenkopf, trat vor. Sie waren alle noch junge Frauen, doch immerhin älter als Nynaeve. Daß Nynaeve so schnell zu den Aufgenommenen erhoben wurde, war schon erstaunlich gewesen. Normalerweise dauerte es Jahre, bis eine Novizin den Ring der großen Schlange bekam, den die Aufgenommenen trugen, und dann dauerte es wiederum Jahre, bis sie überhaupt hoffen konnten, zur Aes Sedai gemacht zu werden.
»Bringt sie in ihre Zimmer«, befahl Sheriam, »und sorgt dafür, daß sie dort bleiben. Sie können Brot bekommen und kalte Suppe und Wasser, bis die Amyrlin anderes anordnet. Und wenn eine von ihnen auch nur ein Wort sagt, bringt ihr sie in die Küche und laßt sie Töpfe auskratzen.« Sie wirbelte herum und stolzierte weg. Selbst ihr steifer Rücken drückte noch Zorn aus.
Faolain betrachtete Egwene und die anderen beinahe hoffnungsvoll, besonders Nynaeve, der die Wut auf das Gesicht geschrieben stand. Faolains rundes Gesicht zeigte, daß sie keine Sympathie für diejenigen empfand, die alle Vorschriften mißachteten, und am allerwenigsten für eine wie Nynaeve, eine Wilde, die ihren Ring erhalten hatte, ohne jemals Novizin gewesen zu sein, und die die Macht gebraucht hatte, bevor sie Tar Valon betrat. Als es schließlich offensichtlich war, daß Nynaeve nicht daran dachte, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, zuckte Faolain die Achseln. »Wenn die Amyrlin nach Euch schickt, werdet Ihr wahrscheinlich einer Dämpfung unterzogen.«
»Überlaßt sie mir, Faolain«, sagte eine andere der Aufgenommenen. Es war die älteste der drei. Sie hatte einen langen Hals und kupferfarbene Haut und bewegte sich auffallend graziös. »Ich bringe Euch hin«, sagte sie zu Nynaeve. »Ich heiße Theodrin und war auch eine Wilde. Ich werde mich an Sheriam Sedais Befehl halten, aber Euch nicht provozieren. Kommt.«
Nynaeve warf Egwene und Elayne einen besorgten Blick zu, seufzte dann und ließ sich von Theodrin wegführen.
»Wilde«, knurrte Faolain. Bei ihr klang das wie ein Fluch. Sie drehte sich um und starrte Egwene an.
Die dritte Aufgenommene, eine hübsche junge Frau mit roten Wangen, stellte sich neben Elayne. Ihre Mundwinkel waren leicht hochgezogen, als lächle sie gern, doch der strenge Blick, den sie Elayne zuwarf, sagte klar aus, daß sie keinen Unsinn zulassen werde.
Egwene erwiderte Faolains Blick so ruhig wie möglich und mit der gleichen überlegenen Verachtung, so hoffte sie jedenfalls, wie Elayne das so gut konnte. Rote Ajah, dachte sie. Die wird sich garantiert den Roten anschließen. Aber es gelang ihr nicht, sich lange von den eigenen Sorgen abzulenken. Licht, was werden sie mit uns machen? Sie meinte damit die Aes Sedai, die Burg, und nicht diese drei Frauen.
»Also dann kommt mit«, fauchte Faolain. »Es ist schon schlimm genug, daß ich an Eurer Tür Wache halten soll. Dann müssen wir nicht auch noch den ganzen Tag hier herumstehen. Los schon!«
Egwene atmete tief durch, ergriff Elaynes Hand und folgte. Licht, laß sie nur Mat heilen!
12
Beim Amyrlin-Sitz
Siuan Sanche ging in ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und sah den geschnitzten Ebenholzkasten an, der auf einem langen Tisch in der Mitte des Zimmers stand. Dieser Blick hatte bereits Herrscher zum hilflosen Stammeln gebracht. Sie hoffte, sie werde keines der sorgfältig ausgearbeiteten Dokumente in diesem Kasten jemals benützen müssen. Sie hatte alles im Geheimen vorbereitet und versiegelt, um einem Dutzend verschiedener Möglichkeiten vorzubeugen. Dann hatte sie den Kasten noch einmal mit Hilfe der Macht versiegelt, so daß der Inhalt, sollte jemand anders als sie ihn öffnen, augenblicklich verbrennen würde. Wahrscheinlich würde der ganze Kasten in Flammen aufgehen.
»Und die diebische Elster versengen, wer sie auch sein mag, damit sie es niemals vergißt, hoffe ich«, knurrte sie. Zum hundertstenmal, seit man ihr mitgeteilt hatte, Verin sei zurückgekehrt, rückte sie die Stola auf ihren Schultern zurecht, ohne es überhaupt bewußt zu bemerken. Sie hing ihr bis unter die Hüften herunter, breit und in den Farben aller sieben Ajahs gestreift. Die Amyrlin gehörte allen Ajahs an und doch keiner, ganz gleich, aus welcher sie ursprünglich hervorgegangen war.
Das Zimmer war reich ausgeschmückt, denn Generationen von Frauen, die diese Stola getragen hatten, hatten es benützt. Der große Kamin und der breite, im Moment kalte Herd bestanden aus Goldmarmor, der aus Kandor gekommen war. Die Fußbodenplatten in Form eines Diamanten waren aus glänzendem Rotstein gefertigt, wie er nur in den Verschleierten Bergen gewonnen wurde. Die Wände waren mit einem blassen, gemaserten Holz getäfelt. Es war eisenhart, und man hatte daraus fantastische Tiere und Vögel mit einem unglaublichen Federkleid geschnitzt. Diese Täfelung kam aus Ländern jenseits der Aiel-Wüste und war von den Meerleuten als Geschenk gebracht worden, bevor noch Artur Falkenflügel geboren wurde. Hohe Bogenfenster, die nun offenstanden, um die frischen, grünen Düfte hereinzulassen, führten auf einen Balkon, von dem aus sie ihren kleinen Privatgarten überblicken konnte. Sie hatte selten nur Zeit, um darin zu wandeln.
All diese Pracht stand in hartem Kontrast zu den Möbeln, die Siuan Sanche in den Raum eingebracht hatte. Der eine Tisch und der massive Stuhl dahinter waren schmucklos, wenn auch glänzend vom Alter und vom Bienenwachs, genau wie der einzige weitere Stuhl im Raum. Der stand an einer Seite, gerade nahe genug, daß sie ihn heranziehen konnte, falls sie ihn einem Besucher anbieten wollte. Vor dem Tisch lag ein kleiner Läufer aus Tear, der in einfachen Mustern blau, braun und goldfarben gewebt war. Eine einzelne Originalzeichnung, die winzige Fischerboote im Schilf zeigte, hing über dem Kamin. Ein halbes Dutzend Regalbretter voller Bücher waren an den Wänden verteilt. Das war alles. Selbst die Lampen hätten auch in einem Bauernhaus stehen können.