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»Was ist an ihm anders?« fragte Nynaeve. »Und wie kann er mehr als tot sein?«

Sheriam atmete tief durch und betrachtete beide Frauen forschend. »Es ist einer der Seelenlosen. Ein Grauer Mann.« Geistesabwesend wischte sie sich noch mal die Finger ab und sah wieder zu der Leiche hinüber. Ihr Blick war besorgt.

»Die Seelenlosen?« fragte Egwene mit leicht zitternder Stimme, und beinahe im gleichen Moment fragte Nynaeve: »Ein Grauer Mann?«

Sheriam warf ihnen einen kurzen, aber um so durchdringenderen Blick zu. »Das ist noch nicht Teil eures Lehrstoffes, aber ihr scheint auf viele verschiedene Arten sämtliche Regeln zu durchbrechen. Und da ihr diesen... gefunden habt... « Sie deutete auf den Leichnam. »Die Seelenlosen, die Grauen Männer, geben ihre Seele auf, um dem Dunklen König als Attentäter zu dienen. Danach leben sie nicht mehr richtig. Sie sind nicht ganz tot, leben aber auch nicht. Und trotz der Bezeichnung sind einige der ›Grauen Männer‹ auch Frauen. Einige wenige. Selbst unter den Schattenfreunden sind nur wenige Frauen dumm genug, dieses Opfer zu bringen. Ihr könnt sie genau ansehen, und trotzdem bemerkt ihr sie nicht, bis es zu spät ist. Er war schon genauso tot, als er noch unter den Lebenden wandelte. Nun sagen mir lediglich meine Augen, daß das, was hier liegt, überhaupt einmal gelebt hat.« Sie sah sie noch einmal lange an. »Kein Grauer Mann hat mehr gewagt, Tar Valon zu betreten, seit die Trolloc-Kriege vorüber sind.«

»Was werdet Ihr nun tun?« fragte Egwene. Sheriam zog die Augenbrauen hoch, und sie fügte schnell hinzu: »Falls ich das fragen darf, Sheriam Sedai.«

Die Aes Sedai zögerte. »Ich denke schon, daß Ihr fragen dürft, denn Ihr hattet ja auch das Pech, ihn zu finden. Die Amyrlin wird das entscheiden, aber ich glaube, nach all dem, was zuletzt geschehen ist, wird sie das soweit wie möglich geheimhalten wollen. Wir brauchen nicht noch mehr Gerüchte. Ihr werdet mit niemandem außer mir darüber sprechen, und natürlich mit der Amyrlin, falls sie es zuerst erwähnt.«

»Ja, Aes Sedai«, sagte Egwene inbrünstig. Nynaeves Stimme klang kühler.

Sheriam nahm ihren Gehorsam als etwas ganz Selbstverständliches hin. Sie ließ nicht erkennen, daß sie sie überhaupt gehört hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz dem toten Mann. Dem Grauen Mann. Dem Seelenlosen. »Die Tatsache, daß hier ein Mann getötet wurde, wird sich nicht verbergen lassen.« Plötzlich umgab sie das Glühen der Einen Macht, und genauso unvermittelt lag der Körper auf dem Boden unter einer niedrigen Glocke. Sie war durchscheinend grau, und darunter konnte man den Körper nur noch schwer erkennen. »Aber das wird jede, die seine Art erkennen könnte, davon abhalten, ihn zu berühren. Ich muß das entfernen lassen, bevor die Novizinnen zurückkommen.«

Ihre schrägstehenden, grünen Augen betrachteten sie, als habe sie sich gerade erst an ihre Gegenwart erinnert. »Ihr beiden geht jetzt weg. Am besten in euer Zimmer, Nynaeve. Wenn man bedenkt, was ihr schon alles zu bewältigen habt... Man darf nicht erfahren, daß ihr in diese Sache hier verwickelt seid, selbst wenn es nur am Rande ist. Geht!«

Egwene knickste und zupfte an Nynaeves Ärmel, aber Nynaeve sagte: »Warum seid Ihr hier heraufgekommen, Sheriam Sedai?«

Einen Augenblick lang blickte Sheriam überrascht drein, doch dann runzelte sie sogleich kritisch die Stirn.

»Muß die Oberin der Novizinnen plötzlich eine Entschuldigung haben, wenn sie die Quartiere der Novizinnen besucht, Aufgenommene?« fragte sie leise. »Stellen Aufgenommene nun plötzlich die Aes Sedai in Frage? Die Amyrlin hat vor, aus euch beiden etwas zu machen, aber ob sie das nun schafft oder nicht, ich werde euch wenigstens Manieren beibringen. Nun geht aber, ihr beiden, bevor ich euch in mein Arbeitszimmer schleife, und das keineswegs bereits für den Termin dort, den die Amyrlin für euch vorgesehen hat.«

Mit einem Mal kam Egwene ein Gedanke. »Verzeiht mir, Sheriam Sedai«, sagte sie schnell, »aber ich muß meinen Umhang noch holen. Mich friert.« Sie eilte weg um die Galerie herum, bevor die Aes Sedai etwas erwidern konnte. Falls Sheriam den Armbrustbolzen vor ihrer Tür fand, würde sie zu viele Fragen stellen. Dann könnten sie nicht mehr behaupten, sie hätten lediglich den Mann gefunden und sonst nichts mit ihm zu tun. Doch als sie die Tür zu ihrem Zimmer erreichte, war der schwere Bolzen weg. Nur die Scharte im Stein neben der Tür zeigte, daß er dort eingeschlagen war.

Egwene bekam eine Gänsehaut. Wie konnte jemand den entfernen, ohne daß wir es bemerkten? Ein weiterer Grauer Mann! Sie berührte ganz unbewußt Saidar. Nur der süße Strom der Macht in ihr sagte ihr, was sie getan hatte. Trotzdem tat sie etwas, was zum Schwersten gehörte, das sie jemals unternommen hatte: Sie öffnete die Tür und trat in ihr Zimmer. Es war niemand da. Sie schnappte sich den weißen Umhang vom Haken und rannte hinaus, und sie ließ Saidar nicht fahren, bis sie fast wieder bei den anderen angelangt war.

Zwischen den Frauen mußte während ihrer Abwesenheit noch etwas vorgegangen sein. Nynaeve bemühte sich, demütig zu wirken, brachte es aber nur fertig, dreinzuschauen, als habe sie Sodbrennen. Sheriam hatte die Fäuste in die Hüften gestützt und klopfte irritiert mit der Fußspitze auf den Boden. Der Blick, den sie Nynaeve zuwarf, wirkte, als wollten grüne Mahlsteine sie im nächsten Moment wie Hafer mahlen. Egwene wurde sofort darin mit einbezogen.

»Verzeiht, Sheriam Sedai«, sagte sie schnell, knickste vor ihr und warf sich gleichzeitig den Umhang über. »Das alles... einen toten Mann zu entdecken... einen... einen Grauen Mann! — das hat mich frieren lassen. Können wir jetzt gehen?«

Sheriam nickte kurz und Nynaeve machte ihren üblichen sehr kurz angebundenen Knicks. Egwene packte sie am Arm und zog sie weg.

»Willst du uns noch mehr Schwierigkeiten einhandeln?« fragte sie zwei Ebenen weiter unten. Sie befanden sich außer Hörweite von Sheriam, hoffte sie jedenfalls. »Was hast du noch zu ihr gesagt, daß sie so böse dreinschaute? Noch mehr Fragen, schätze ich! Ich hoffe, du hast etwas erfahren, was ihren Zorn auf uns wert war!«

»Sie hat gar nichts gesagt«, knurrte Nynaeve. »Wir müssen Fragen stellen, wenn wir etwas ausrichten wollen, Egwene. Es ist ein wenig Risiko wert, denn sonst erfahren wir überhaupt nichts.«

Egwene seufzte. »Na ja, aber sei ein bißchen verbindlicher dabei!« Nach Nynaeves Gesichtsausdruck zu schließen, hatte sie nicht die Absicht, verbindlicher zu werden oder Risiken aus dem Weg zu gehen. Egwene seufzte noch einmal. »Der Armbrustbolzen war weg, Nynaeve. Er muß von einem anderen Grauen Mann entfernt worden sein.«

»Deshalb bist du also... Licht!« Nynaeve runzelte die Stirn und riß wieder an ihrem Zopf.

Nach einer Weile sagte Egwene: »Was war denn das, womit sie die... den Körper verdeckt hat?« Sie vermied es, noch einmal an die Bezeichnung Grauer Mann zu denken. Das erinnerte sie zu sehr daran, daß draußen noch einer von der Sorte lauerte. Eigentlich wollte sie am liebsten an gar nichts denken.

»Luft«, erwiderte Nynaeve. »Sie benützte ganz einfach Luft dazu. Eine saubere Sache. Ich glaube, ich weiß, wie man sich das zunutze machen kann.«

Der Gebrauch der Einen Macht unterlag den fünf Elementen: Erde, Luft, Feuer, Wasser und Geist. Verschiedenartige Talente erforderten auch unterschiedliche Kombinationen dieser Elemente. »Ich verstehe einiges daran nicht, wie man die Fünf Elemente kombiniert. Nimm zum Beispiel die Heilung von Krankheiten oder Verletzungen. Klar, daß man dazu den Geist benötigt und vielleicht auch die Luft, aber warum das Wasser?«

Nynaeve fuhr sie an: »Was quatschst du denn da laut aus? Hast du vergessen, was wir tun müssen?« Sie sah sich um. Sie hatten die Quartiere der Aufgenommenen erreicht, die einige Galerien tiefer lagen als die der Novizinnen. Sie waren von einem Garten umgeben. Es war nur eine andere Aufgenommene zu sehen, die auf einer anderen Ebene weitereilte, doch sie senkte die Stimme: »Hast du die Schwarzen Ajah vergessen?«