»Das hatte ich auch niemals vor«, versicherte Nynaeve ihr. Egwene blickte sie mit großen Augen an. »Egwene, du und ich, uns betrachtete Liandrin als Bedrohung. Wir beide wurden eben erst beinahe getötet... «
»Beinahe getötet?« flüsterte Elayne.
»... vielleicht, weil wir immer noch eine Bedrohung darstellen, oder vielleicht auch, weil sie bereits wissen, daß wir allein mit der Amyrlin gesprochen haben und was sie uns berichtete. Wir brauchen jemanden auf unserer Seite, die sie nicht kennen, und wenn auch die Amyrlin keine Ahnung davon hat, um so besser. Ich bin nicht sicher, ob wir der Amyrlin viel mehr trauen können als den Schwarzen Ajah. Sie will uns benützen, wozu auch immer. Ich werde dafür sorgen, daß wir dabei nicht verlieren. Verstehst du das?«
Egwene nickte zögernd. Trotzdem sagte sie: »Es wird gefährlich, Elayne, genauso gefährlich wie alles, was wir in Falme erlebten. Vielleicht noch mehr. Du mußt dich diesmal nicht darin verwickeln lassen.«
»Das weiß ich«, sagte Elayne leise. Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Wenn Andor in den Krieg zieht, dann befehligt der Erste Prinz des Schwertes das Heer, aber die Königin reitet auch mit. Vor siebenhundert Jahren wurden die Mannen aus Andor in der Schlacht bei Cuallin Dhen bereits zurückgeschlagen, als Königin Modrellein allein und unbewaffnet losritt und das Löwenbanner mitten unter die Soldaten aus Tear brachte. Die Mannen von Andor fingen sich noch einmal und griffen wieder an, retteten sie und gewannen die Schlacht. Diese Art von Mut erwartet man von der Königin von Andor. Wenn ich jetzt noch nicht gelernt habe, meine eigene Angst unter Kontrolle zu bringen, dann muß ich das spätestens, bevor ich den Platz meiner Mutter auf dem Löwenthron einnehme.« Plötzlich löste sich ihre düstere Stimmung in einem Kichern auf. »Außerdem, glaubt ihr etwa, ich wolle ein Abenteuer verpassen, damit ich Töpfe auskratzen kann?«
»Das wirst du sowieso tun müssen«, erwiderte Nynaeve. »Und dazu hoffen, daß alle glauben, du tätest nichts anderes. Jetzt höre gut zu.«
Elayne lauschte, und ihre Kinnlade klappte immer mehr herunter, als ihr Nynaeve eröffnete, was die Amyrlin ihnen berichtet hatte, und die Aufgabe, die sie ihnen anvertraut hatte, und den Anschlag auf ihr Leben. Sie schauderte bei der Erwähnung des Grauen Mannes und las staunend das Dokument, das die Amyrlin Nynaeve gegeben hatte. Sie gab es zurück und knurrte: »Wenn ich das nur bei meiner nächsten Begegnung mit Mutter hätte.« Als Nynaeve schließlich fertig war, blickte Elayne ziemlich frustriert drein.
»Also, das ist ja so, als sage man euch, ihr sollt in die Hügel hinaufmarschieren und Löwen suchen, nur daß ihr gar nicht wißt, ob es dort Löwen gibt, und falls es sie gibt, kann es sein, daß sie euch jagen und daß sie sich hinter jedem Busch verborgen haben können. Oh, und falls ihr Löwen findet, schaut ja zu, daß sie euch nicht auffressen, bevor ihr weitermelden könnt, wo sie sind.«
»Wenn du Angst hast«, stellte Nynaeve fest, »kannst du dich immer noch heraushalten. Wenn du aber einmal damit begonnen hast, ist es zu spät.«
Elayne rümpfte die Nase. »Klar habe ich Angst. Ich bin keine Närrin. Aber ich habe nicht soviel Angst, daß ich einen Rückzieher mache, bevor ich überhaupt angefangen habe.«
»Da ist noch etwas«, sagte Nynaeve. »Ich fürchte, die Amyrlin plant, Mat sterben zu lassen.«
»Aber eine Aes Sedai muß doch jeden heilen, der sie darum bittet!« Die Tochter-Erbin schien zwischen Zorn und Ungläubigkeit zu schwanken. »Warum sollte sie Mat sterben lassen? Das kann ich nicht glauben. Das will ich nicht glauben!«
»Ich auch nicht«, keuchte die völlig überraschte Egwene. Das kann sie nicht gemeint haben! Sie kann ihn nicht einfach sterben lassen! »Den ganzen Weg nach hier über hat Verin gesagt, die Amyrlin werde dafür sorgen, daß er geheilt wird.«
Nynaeve schüttelte den Kopf. »Verin sagte, die Amyrlin werde sich um ihn kümmern! Das ist nicht das gleiche. Und die Amyrlin vermied jedes klare Ja oder Nein, als ich sie danach fragte. Vielleicht hat sie sich noch nicht entschieden.«
»Aber warum?« fragte Elayne.
»Die Weiße Burg hat für alles, was sie tut, ihre eigenen Gründe.« Der Klang von Nynaeves Stimme ließ Egwene schaudern. »Ich weiß nicht, warum. Ob sie Mat wieder zum Leben erwecken oder ihn sterben lassen, hängt davon ab, was ihnen am besten dient. Keiner der Drei Eide besagt, daß sie ihn heilen müssen. Mat ist einfach ein Werkzeug in den Augen der Amyrlin. Sie benützt uns, um die Schwarzen Ajah zu suchen, aber wenn man ein Werkzeug kaputtmacht, so daß es nicht mehr repariert werden kann, weint man ihm deshalb noch lange keine Träne nach. Man holt sich einfach ein neues. Daran solltet ihr beiden auch immer denken.«
»Was sollen wir seinetwegen unternehmen?« fragte Egwene. »Was können wir tun?«
Nynaeve ging zu ihrem Kleiderschrank und kramte tief darin herum. Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen gestreiften Stoffbeutel mit Kräutern in der Hand. »Mit meiner eigenen Medizin — und ein wenig Glück — kann ich ihn vielleicht selbst heilen.«
»Verin hat es nicht fertiggebracht«, sagte Elayne. »Moiraine und Verin gemeinsam konnten es nicht, und Moiraine hatte einen Angreal. Nynaeve, wenn du zuviel von der Einen Macht auf einmal heranziehst, kannst du dich selbst zu Asche verbrennen. Oder dich selbst einer Dämpfung unterziehen, falls du Glück hast. Wenn man das Glück nennen kann.«
Nynaeve zuckte die Achseln. »Sie sagen mir immer wieder, daß ich das Potential habe, die stärkste Aes Sedai der letzten tausend Jahre zu werden. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, herauszufinden, ob sie recht haben.« Sie zupfte schon wieder an ihrem Zopf.
Es war klar: Wie tapfer ihre Worte auch klingen mochten — sie hatte trotzdem Angst. Aber sie wird Mat nicht sterben lassen, auch wenn sie ihr eigenes Leben dabei riskiert. »Sie sagen doch, wir drei seien alle derart mächtig — oder werden es eines Tages sein. Vielleicht können wir den Strom zwischen uns aufteilen, wenn wir zusammenarbeiten.«
»Wir haben noch nie versucht, zusammenzuarbeiten«, sagte Nynaeve bedächtig. »Ich bin nicht sicher, daß ich es fertigbringe, unsere Fähigkeiten irgendwie zusammenzuführen. Der Versuch allein könnte schon genauso gefährlich sein wie die Entnahme von zuviel Energie.«
»Ach, wenn wir es tun wollen«, sagte Elayne und kletterte vom Bett, »dann los. Je länger wir darüber reden, desto mehr Angst bekommen wir. Mat ist in einem der Gästezimmer. Ich weiß nicht, in welchem, aber soviel wenigstens hat mir Sheriam gesagt.«
Als wolle sie einen Schlußstrich unter ihre Worte ziehen, sprang die Tür auf, und eine Aes Sedai trat so selbstverständlich ein, als sei es ihr eigenes Zimmer und die anderen Eindringlinge.
Egwene knickste besonders tief, um ihr erschrockenes Gesicht zu verbergen.
17
Die Rote Schwester
Elaida sah recht gut aus, war aber nicht schön zu nennen. Die Strenge in ihrem Gesicht verlieh ihren alterslosen Aes-Sedai-Zügen mehr Reife. Sie wirkte nicht alt, aber Egwene konnte sich bei Elaida nicht vorstellen, daß sie einmal jung gewesen war. Außer bei ganz offiziellen Anlässen trug kaum eine Aes Sedai die rankenbestickte Stola mit der großen, weißen Träne der Flamme von Tar Valon auf dem Rücken der Trägerin. Doch Elaida trug die ihre, und die roten Fransen zeigten, zu welcher Ajah sie gehörte. Auch ihr beiges Seidenkleid wies rote Schrägstreifen auf, und unter dem Saum ihres Rocks lugten rote Schuhe hervor. Ihre dunklen Augen beobachteten sie wie die eines Raubvogels ein paar Würmer.
»Also seid ihr alle zusammen. Das überrascht mich eigentlich überhaupt nicht.« In Kleidung wie Stimme lag nichts Überhebliches; sie war eine mächtige Frau, immer bereit, ihre Macht anzuwenden, wenn sie es für nötig hielt, eine Frau, die mehr wußte als die Personen, mit denen sie sprach. Das galt sowohl für eine Königin wie für eine Novizin.