»Es ist nur ein Dorf«, sagte Nynaeve. »Nur ein Dorf wie jedes andere.«
»Ja. Natürlich.« Elaida lächelte. Es war mehr ein kaltes Lippenzucken, das Egwene den Magen herumdrehte. »Erzählt mir von ihm. Die Amyrlin hat euch doch nicht befohlen, auch über ihn Schweigen zu bewahren, oder?«
Nynaeve zog an ihrem Zopf. Elayne betrachtete den Teppich, als liege in seinem Muster etwas Wichtiges verborgen, und Egwene zermarterte sich das Hirn, um eine geschickte Antwort zu finden. Man sagt, sie könne Lügen heraushören. Licht, falls sie das wirklich kann... Der Augenblick zog sich in die Länge, bis Nynaeve endlich den Mund aufmachte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür wieder.
Sheriam sah sie überrascht an. »Es ist gut, daß ich Euch hier vorfinde, Elayne. Ich brauche euch alle drei. Ich hatte Euch hier nicht erwartet, Elaida.«
Elaida stand auf und rückte ihre Stola zurecht. »Wir sind alle neugierig dieser Mädchen wegen. Warum sie weggelaufen sind. Was sie erlebt haben während ihrer Abwesenheit. Sie sagen, die Mutter habe ihnen befohlen, darüber zu schweigen.«
»Das ist auch gut so«, sagte Sheriam. »Sie werden bestraft und damit Schluß. Ich war immer der Meinung, daß mit dem Abbüßen einer Strafe der Grund dafür vergessen werden sollte.«
Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Aes Sedai an, und auf keinem der beiden Gesichter zeigte sich irgendein Ausdruck. Dann sagte Elaida: »Sicher. Vielleicht spreche ich ein andermal wieder mit ihnen. Über andere Dinge.« In dem Blick, den sie den drei Frauen in Weiß zuwarf, schien Egwene eine Warnung zu liegen. Dann drückte sie sich an Sheriam vorbei.
Die Herrin der Novizinnen hielt die Tür auf und sah der anderen Aes Sedai nach, wie sie die Galerie entlangschritt. Ihr Gesicht war nach wie vor ausdruckslos.
Egwene atmete tief aus und nahm Gleiches von Nynaeve und Elayne wahr.
»Sie drohte mir«, sagte Elayne ungläubig und mehr in sich selbst hinein. »Sie drohte mir mit einer Dämpfung, wenn ich weiter so... eigensinnig bin!«
»Ihr habt sie mißverstanden«, sagte Sheriam. »Wenn Eigensinn zu einer Dämpfung führen müßte, dann wäre die Liste der Betroffenen so lang, daß ihr sie nicht mehr auswendig lernen könntet. Nur wenige folgsame Frauen bekommen jemals den Ring und die Stola. Das heißt aber nicht, daß ihr nicht lernen müßt, folgsam und demütig zu sein, wenn die Situation es von euch verlangt.«
»Ja, Sheriam Sedai«, sagten die drei wie aus einem Munde, und Sheriam lächelte. »Seht ihr? Zumindest könnt ihr euch demütig und folgsam geben. Und ihr werdet genügend Gelegenheiten bekommen, euch darin zu üben, bis ihr bei der Amyrlin wieder in Gnade seid. Und in meiner. Bei mir wird das noch schwerer werden.«
»Ja, Sheriam Sedai«, sagte Egwene, doch diesmal schloß sich nur Elayne ihr an.
Nynaeve sagte: »Was ist mit... dem Körper, Sheriam Sedai? Dieses... des Seelenlosen? Habt Ihr herausbekommen, wer ihn tötete? Oder warum er die Burg betrat?«
Sheriam verzog den Mund. »Ihr tretet einen Schritt vor, Nynaeve, und dann wieder einen zurück. Aus der fehlenden Überraschung bei Elayne schließe ich, daß Ihr es ihr offensichtlich erzählt habt — obwohl ich Euch verboten hatte, darüber zu sprechen! —, und damit wissen nun genau sieben Personen in der Burg davon, daß heute ein Mann in den Quartieren der Novizinnen getötet wurde. Zwei davon sind Männer, die nicht mehr als eben das wissen. Und, daß sie den Mund zu halten haben. Wenn ein Befehl der Herrin aller Novizinnen bei euch nichts zählt — nun, ich werde dafür sorgen, daß sich das ändert —, gehorcht ihr vielleicht wenigstens der Amyrlin. Ihr dürft mit niemandem darüber sprechen außer der Amyrlin und mir. Die Amyrlin wünscht keine neuen Gerüchte neben denen, mit denen wir uns bereits abfinden müssen. Ist das klar?«
Die Härte in ihrer Stimme löste ein dreifaches »Ja, Sheriam Sedai« aus, doch Nynaeve ließ es damit nicht bewenden. »Sieben, sagtet Ihr, Sheriam Sedai. Plus den, der ihn tötete. Und vielleicht hatten sie noch Helfer, um in die Burg zu gelangen.«
»Das muß euch nicht interessieren.« Sheriams ruhiger Blick umfaßte alle drei. »Ich werde alle Fragen stellen, die dieses Mannes wegen gestellt werden müssen. Ihr werdet derweil vergessen, daß ihr von diesem toten Mann wißt. Falls ich bemerke, daß ihr meinem Befehl zuwiderhandelt... Also, es gibt noch Schlimmeres, als Töpfe auszukratzen, um eure Aufmerksamkeit zu binden. Und ich nehme keine Entschuldigungen an. Höre ich noch mehr Fragen?«
»Nein, Sheriam Sedai.« Diesmal schloß sich zu Egwenes Beruhigung auch Nynaeve an. Nicht, daß sie besonders erleichtert war. Sheriams Überwachung würde ihre Suche nach Schwarzen Ajah noch schwieriger gestalten. Einen Augenblick lang hatte sie das Bedürfnis, hysterisch zu lachen. Wenn uns die Schwarzen Ajah nicht erwischen, dann erwischt uns Sheriam. Der Wunsch, zu lachen, verflüchtigte sich. Falls Sheriam nicht selbst eine Schwarze Ajah ist. Sie hätte diesen Gedanken am liebsten gleich wieder verdrängt.
Sheriam nickte. »Also gut. Ihr kommt jetzt mit mir.«
»Wohin?« fragte Nynaeve und fügte schnell hinzu: »Sheriam Sedai«, einen Augenblick, bevor sich die Augen der Aes Sedai drohend zusammenzogen.
»Habt Ihr vergessen«, fragte Sheriam mit gepreßter Stimme, »daß in der Burg eine Heilung immer in Gegenwart derer durchgeführt wird, die den Kranken zu uns gebracht haben?«
Egwene glaubte schon, die Geduld der Herrin über die Novizinnen sei nun endgültig aufgebraucht, und doch konnte sie sich nicht helfen und platzte heraus: »Dann wird sie ihn tatsächlich heilen!«
»Unter anderen wird die Amyrlin selbst sich um ihn bemühen.« Sheriams Gesicht war so nichtssagend, wie ihre Stimme klang. »Hattet Ihr einen Grund, daran zu zweifeln?« Egwene konnte nur den Kopf schütteln. »Dann verschwendet ihr die Lebenszeit eures Freundes, wenn ihr hier herumsteht. Man darf die Amyrlin nicht warten lassen.« Doch trotz dieser Worte hatte Egwene das vage Gefühl, die Aes Sedai habe es keineswegs eilig.
18
Heilung
Öllampen, die auf eisernen Kerzenhaltern an den Wänden angebracht waren, beleuchteten die Gänge tief unter der Burg, in die Sheriam sie geführt hatte. Die wenigen Türen, an denen sie vorbeikamen, waren fest verriegelt, einige davon mit Hilfe von Hängeschlössern. Ein paar dieser Türen waren so geschickt in die Wand eingearbeitet, daß Egwene sie erst bemerkte, als sie schon davorstand. Die Öffnungen anderer Gänge waren meist dunkel; nur bei einigen davon konnte man das ferne Glühen von in großen Abständen verteilten Lampen erkennen. Sie sah keine anderen Menschen. An diese Orte kamen auch die Aes Sedai nur selten. Die Luft war weder kühl noch warm, aber trotzdem schauderte sie und fühlte gleichzeitig Schweiß ihren Rücken hinabrinnen.
Hier unten, in den Tiefen der Weißen Burg, legten die Novizinnen ihre letzte Prüfung ab, bevor sie zu Aufgenommenen erhoben wurden. Oder aus der Burg gewiesen, falls sie nicht bestanden hatten. Hier unten legten die Aufgenommenen die Drei Eide ab, nachdem sie ihrerseits die letzte Prüfung absolviert hatten. Ihr fiel auf, daß niemand ihr erzählt hatte, was mit Aufgenommenen geschah, die bei dieser Prüfung versagten. Irgendwo hier unten war auch der Raum, in dem die wenigen Angreal und Sa'Angreal aufbewahrt wurden, und wo man die TerAngreal lagerte. Die Schwarzen Ajah hatten ihren Schlag in diesen Lagerräumen ausgeführt. Und falls einige Schwarze Ajah in einem dieser dunklen Seitengänge lauerten und Sheriam sie nicht zu Mat führte, sondern...
Sie quiekte auf, als die Aes Sedai plötzlich stehenblieb. Dann lief sie rot an, denn alle blickten neugierig zu ihr herüber. »Ich... ich habe an die Schwarzen Ajah denken müssen«, gab sie kleinlaut zu.