»Er muß berichten. Gewöhnlich einem Halbmenschen.« In den Grenzlanden wurde für das Erlegen von Raben eine Prämie bezahlt. Keiner dort wagte es, anzunehmen, daß ein Rabe einfach nur ein Vogel sei. »Licht, wenn Herzbann auch noch sehen könnte, was immer die Raben sehen, dann wären wir schon tot gewesen, bevor wir die Berge erreichten.« Ragan sagte das so leichthin; für einen schienarischen Soldaten war das alltäglich.
Perrin schauderte, und das kam nicht von der Kälte. In seinem Hinterkopf knurrte irgend jemand eine Herausforderung auf Leben und Tod. Herzbann. Verschiedene Namen in verschiedenen Ländern — Seelenbann und Herzfang, Herr der Gräber und Herr des Zwielichts — und überall die Namen ›Vater der Lügen‹ und der ›Dunkle König‹. Alles, um zu vermeiden, ihn beim richtigen Namen zu nennen und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Dunkle König sandte oft Raben und Krähen und in den Städten Ratten aus. Perrin zog einen weiteren Pfeil mit breiter Spitze aus dem Köcher an der Hüfte gegenüber seiner Axt.
»Der ist zwar so groß wie ein Knüppel«, meinte Ragan mit einem bewundernden Blick auf Perrins Bogen, »aber er kann vielleicht schießen! Ich möchte nicht sehen, was er einem Mann in voller Rüstung antun kann.« Die Schienarer trugen zur Zeit nur leichte Kettenhemden unter den Mänteln, aber normalerweise kämpften sie in Rüstungen und ihre Pferde trugen metallbeschlagene Decken.
»Zu lang für einen Reiter«, spottete Masema. Die dreieckige Narbe auf seiner dunklen Wange ließ sein Grinsen noch verächtlicher wirken. »Ein guter Brustpanzer hält jeden Pfeil ab, außer bei ganz kurzer Entfernung, und wenn dein erster Schuß danebengeht, wird der Mann, auf den du geschossen hast, dir den Bauch aufschlitzen.«
»Das ist es ja gerade, Masema.« Ragan entspannte sich ein wenig, da der Himmel leer geblieben war. Der Rabe mußte ein Einzelgänger gewesen sein. »Mit diesem Zwei-Flüsse-Bogen muß man halt nicht so nahe dran sein, wetten?« Masema öffnete den Mund.
»Ihr beiden, hört auf, eure blutigen Zungen zu wetzen!« fauchte Uno. Seine Gesichtszüge wirkten selbst für einen Schienarer hart — mit der langen Narbe über der linken Gesichtshälfte und dem fehlenden Auge. Auf ihrem Weg in die Berge hatte er sich im Herbst eine bunte Augenklappe zugelegt, doch das immer finster dreinblickende, aufgemalte feuerrote Auge half nicht, daß man seinen Blick leichter ertragen konnte. »Wenn ihr euren blutigen Verstand nicht bei eurer blutigen Aufgabe haltet, dann sorge ich dafür, daß ihr durch sengende Extrawachen heute nacht blutig beruhigt werdet.« Ragan und Masema gaben unter seinem Blick Ruhe. Er sah sie noch einmal finster an und wandte sich dann wieder etwas freundlicher Perrin zu. »Siehst du schon irgend etwas?« Sein Tonfall war vielleicht ein wenig rauher als einem Kommandanten gegenüber, dem ihn der König von Schienar oder der Herr von Fal Dara unterstellt hätte, aber es lag doch eine gewisse Bereitschaft darin, zu tun, was immer Perrin vorschlug.
Die Schienarer wußten, wie weit er sehen konnte, aber sie nahmen es ganz selbstverständlich hin, genauso wie seine Augenfarbe. Natürlich kannten sie noch nicht einmal die halbe Wahrheit, aber sie nahmen ihn so, wie er war. Wie sie dachten, daß er sei. Sie schienen überhaupt alles hinzunehmen. Die Welt verändert sich, sagten sie. Alles drehte sich mit den Rädern des Zufalls und der Veränderung. Wenn ein Mann Augen hatte, deren Farbe noch nie zuvor bei einem Menschen aufgetaucht war, nun ja, was hatte das schon zu bedeuten?
»Sie kommt«, sagte Perrin. »Ihr solltet sie jetzt auch sehen können. Dort!« Er deutete hinüber. Uno beugte sich vor, und sein Auge zog sich angestrengt zusammen. Dann nickte er zweifelnd.
»Da bewegt sich verflucht noch mal etwas.« Einige der anderen nickten und murmelten zustimmend. Uno funkelte sie an, und sie kehrten zu ihrer eigentlichen Beschäftigung zurück, Himmel und Berge zu beobachten. Plötzlich wurde Perrin klar, was die lebhaften Farben an der entfernten Reiterin zu bedeuten hatten. Ein leuchtend grüner Rock lugte unter einem hellroten Umhang hervor. »Sie gehört zum Fahrenden Volk«, sagte er überrascht. Niemand sonst kleidete sich in solch leuchtende Farben und eigenartige Zusammenstellungen, jedenfalls nicht freiwillig.
Unter den Frauen, die sie manchmal getroffen und tiefer in die Berge geleitet hatten, war so ziemlich jede Sorte gewesen: eine Bettlerin in Lumpen, die sich zu Fuß durch den Schneesturm kämpfte, eine Händlerin, die ganz allein eine Schar von beladenen Packpferden führte, eine Lady in Seide und Pelzen, die auf einem goldverzierten Damensattel saß und ihr Pferd mit rotbefransten Zügeln leitete... Die Bettlerin zog mit einem Beutel Silber weiter — mehr als sie sich nach Perrins Meinung zu geben leisten konnten —, bis die Lady mit einem noch fetteren Beutel Gold abreiste. Frauen in jeder Lebenslage, aus Tarabon und Ghealdan und sogar aus Amadicia. Doch er hatte nicht erwartet, eine der Tuatha'an hier zu treffen.
»Eine verdammte Kesselflickerin?« rief Uno. Die anderen teilten seine Überraschung.
Ragans Haarknoten wackelte, als er den Kopf schüttelte. »Ein Kesselflicker läßt sich doch nicht in so was verwickeln! Entweder sie gehört nicht zu ihnen, oder es ist nicht diejenige, die wir erwarten.«
»Kesselflicker«, grollte Masema. »Nutzlose Feiglinge.«
Unos Auge zog sich zusammen, bis es wie das Schaftloch eines Ambosses wirkte. Zusammen mit dem roten aufgemalten Auge auf seiner Augenklappe verlieh ihm das das Aussehen eines rechten Schurken. »Feiglinge, Masema?« fragte er leise. »Wenn du eine Frau wärst, hättest du den verfluchten Mut, allein und verdammt noch mal unbewaffnet hier heraufzureiten?« Es gab keinen Zweifel daran, daß sie unbewaffnet war, wenn sie zu den Tuatha'an gehörte. Masema hielt den Mund, doch die Narbe auf seiner Wange trat straff und blaß hervor.
»Seng mich, wenn ich das wagte«, sagte Ragan. »Und seng mich, wenn du den Mut hättest, Masema.« Masema zupfte an seinem Umhang und suchte auffällig konzentriert den Himmel ab.
Uno schnaubte. »Das Licht gebe, daß der verdammte Aasfresser verflucht noch mal allein war«, murmelte er.
Langsam wand sich die zerzauste, braunweiße Stute zwischen den Bäumen hindurch näher heran. Sie suchte sich ihren Weg dort, wo der Boden zwischen breiten Schneewehen bereits schneefrei war. Einmal ließ die buntgekleidete Frau ihr Pferd anhalten und betrachtete etwas auf dem Boden. Dann zog sie die Kapuze ihres Umhangs ein Stückchen weiter nach vorn und brachte ihr Pferd mit Fersendruck zum langsamen Weitergehen. Der Rabe, dachte Perrin. Sieh diesen Vogel nicht an, Frau, sondern reite lieber weiter. Vielleicht hast du eine Nachricht für uns, die uns endlich hier herausbringt. Falls uns Moiraine hier wegläßt, bevor es wirklich Frühling ist. Seng sie! Einen Augenblick lang war er selbst nicht sicher, ob er damit die Aes Sedai meinte oder die Kesselflickerfrau, die sich viel Zeit zu nehmen schien.
Wenn sie so weitermachte, würde die Frau gute dreißig Schritt entfernt von ihnen auf der anderen Seite des Dickichts vorbeikommen. Sie sah unverwandt dorthin, wo ihre scheckige Stute ausschritt, und ließ sich nicht anmerken, ob sie sie zwischen den Bäumen erspäht hatte.
Perrin stupste die Flanken des Hengstes sanft mit den Fersen und der Braune sprang vorwärts. Unter seinen Hufen stob der Schnee auf. Hinter ihm befahl Uno leise: »Vorwärts!«
Traber war auf dem halben Weg zu ihr, als sie ihrer schließlich gewahr wurde. Sie riß am Zügel ihrer Stute, so daß sie abrupt stehenblieb. Sie beobachtete sie, als die Schienarer einen Kreis um sie bildeten. Ihr roter Umhang wirkte noch greller durch die leuchtendblauen Stickereien nach einem Muster, das sich Tairen-Labyrinth nannte. Sie war nicht mehr jung. Wo ihr Haar nicht von der Kapuze verborgen wurde, war es fast ganz grau. Ihr Gesicht aber wies kaum Falten auf, außer den kritischen Runzeln auf der Stirn beim Anblick ihrer Waffen. Falls sie erschrocken darüber war, hier im Herz der Bergwildnis bewaffnete Männer anzutreffen, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Ihre Hände ruhten entspannt auf dem Horn ihres alten, aber gepflegten Sattels. Und sie roch auch nicht nach Angst.