Die Bestie dachte gar nicht daran aufzugeben, sondern schlug die blutigen Klauen in die schwere Instandsetzungslore, auf der sich eine fahrbare Schmiede und Werkzeug befanden, und schob sie auf dem Gleis einfach rückwärts.
»Halte ihn«, rief Fidelgar, sprang in das Gefährt und zog die Bremse fest an.
Augenblicklich geriet der Vormarsch ihres unheimlichen Gegners ins Stocken, doch noch immer wurde der Karren bewegt. Die Kraft des Dings war enorm.
»Der Vorsprung muss ausreichen«, sagte Fidelgar und hüpfte aus der Lore, um zu Baigar und dem verwundeten Zwerg zurückzukehren. Sie eilten, so rasch es ihnen mit ihrer Last möglich war, den Stollen entlang. Als sie in die Halle gelangten, trennte sich Baigar von ihnen. Fidelgar überließ ihm seine Rauchrolle. »Ich schiebe noch eine zweite Lore in den Gang«, erklärte er paffend sein Vorhaben. »Bring du ihn rasch zu einem Heiler und ruf noch mehr Wachen.« Er befestigte eine Lore mit den Eisenhaken einer Kette, die zu einem großen Flaschenzug lief. Da es zu lange dauerte, die Dampfmaschine in Gang zu setzen, mit denen sie sonst die schweren Lasten anhoben, musste er sich auf seine Muskelkraft verlassen. Er bediente die Notwinde; klirrend wickelte sich die Kette auf und spannte sich dann.
»Sag ihnen, sie sollen lange Eisenstangen mitbringen«, rief er Fidelgar nach.
Der Wächter schleppte den Verwundeten hinaus. »Was soll ich ihnen sagen, wenn sie fragen, was für ein Ungeheuer das ist?«
»Sag ihnen, es sei eine neue Hinterlist der Dritten«, antwortete ihm Baigar.
Fidelgar konnte es nicht glauben. »Wie kann das...«
»Ich habe die Zwergenrunen entziffert, die auf dem Panzerkleid standen.« Baigar schwitzte stark vor Anstrengung; mithilfe des Flaschenzuges schaffte er es, die Lore anzuheben. »Geschlagen, doch nicht vernichtet, bringen wir die Vernichtung«, zitierte er gepresst. »Es können nur die Dritten sein. Richte es der Königin aus, falls ich mein Leben verliere.« Die Muskeln am Oberkörper und an den Armen schwollen an, als er den knapp über dem Boden schwebenden Karren zur Seite bis zu den Schienen drückte.
Es war höchste Zeit. Aus dem Gang erklang das Zischen, eine weiße Wolke flog durch den Tunnelausgang und verkündete das Nahen des tödlichen Gegners.
»Los!«, schrie Baigar. »Ich weiß nicht, ob es sich aufhalten lässt!« Er machte sich bereit, den Karren abzusenken.
»Vraccas schütze dich!« Fidelgar nickte, warf sich den Verletzten über die Schulter und rannte los. Schneller hatte er sich in seinem Leben nicht vorwärts bewegt, und zum ersten Mal empfand er die Weitläufigkeit des Zwergenreiches als Nachteil. Mit lauten Rufen machte er auf sich aufmerksam. Die Zwerge ließen ihre herkömmliche Arbeit stehen und liegen und rüsteten sich eilends, sodass er alsbald fünfzig Krieger um sich versammelt hatte. Den Verletzten ließ er in Obhut zurück, dann eilten er und seine Begleiter in die Halle.
Dennoch kamen sie zu spät.
Die umgeworfenen Loren lagen im Tunnel barrikadengleich schräg über den Schienen. Sie hatten verhindert, dass das Ungeheuer in den Raum dahinter und das Reich der Ersten vordringen konnte.
Aber sie fanden den tapferen Baigar nicht - nur einen Teil seines Beins, einen Fetzen seines Wamses und die blutgetränkte Rauchrolle. Mehr von ihm war zwischen den zerstückelten Überresten der anderen Zwerge, die sich von der Decke über die Wände bis auf den Boden verteilt hatten, nicht mehr auszumachen. Fidelgar schaute den finsteren Stollen entlang, ohne etwas erkennen zu können.
Ihr neuer Feind hatte den Rückzug angetreten und lag wahrscheinlich irgendwo in einem der Gänge auf der Lauer. Die Dritten hatten ihren Brüdern und Schwestern nach mehr als fünf Zyklen von neuem den Krieg erklärt. Das würde die Königin aus seinem Mund erfahren, wie es sich Baigar gewünscht hatte.
Das Geborgene Land, im Grauen Gebirge an der Nordgrenze des Reichs der Fünften 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
Tungdil hatte sich auf den Weg durch Glaimbars Königreich bis zum Steinernen Torweg gemacht, und zwar auf der gleichen Strecke wie damals, zusammen mit Balyndis und Boindil.
Die Schönheit, die er sah, lenkte ihn von seinen üblichen Grübeleien ab, von der Unzufriedenheit, die sich in sein Gemüt geschlichen hatte. Von dem Schmerz jedoch nicht, denn er lauerte wie ein boshaftes Tier in einem Winkel seines Verstandes und schnellte allzu oft hervor, bohrte die langen scharfen Krallen in sein verletzliches Inneres, in seine Seele. Seit jenem verfluchten Tag waren sie seine steten Begleiter - die Unzufriedenheit und der Schmerz.
Das bisschen Zerstreuung wurde durch jedes Kinderlachen zerstört, das ihm unterwegs zu Ohren kam. Der fröhliche Klang schnitt durch sein Herz und riss die Wunde in seiner Seele auf, ließ sie bluten, ehe Tungdil den Sturzbach mit Bier zum Versiegen brachte. Leider hielten diese allzu flüssigen Pfropfen niemals lange vor, daher musste er ständig nachhelfen. So entstanden Gewohnheiten.
Leicht schwankend erreichte Tungdil das gewaltige Tor mit den beiden gigantischen Flügeln, die ein einziges Mal durch Verrat bezwungen worden waren. Ansonsten hätten sie den Angriffen der Scheusale Tausende Zyklen lang getrotzt.
Und genau so sollte es auch wieder sein. Die beschädigten Stellen waren von den Steinmetzen ausgebessert worden, die fünf Riegel waren an ihren Plätzen und bewegten sich nur, wenn die geheimen Worte ausgesprochen wurden.
»Wenn du noch ein Auge hättest und singen würdest, hielte ich dich für Bavragor Hammerfaust«, sagte eine polternde Stimme hinter ihm und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
»Die Stimme eines Toten spricht über einen Toten?«, erwiderte er und wirbelte herum, zu schnell, um sich auf den Füßen zu halten. Zwei kräftige Arme hielten ihn fest und verhinderten den Sturz.
»Sieht so ein Toter aus, Gelehrter?«
Tungdil musterte den muskulösen, gedrungenen Zwerg vor sich. Die langen schwarzen Haare waren an den Schädelseiten wegrasiert und hingen als Zopf auf den Rücken, der gleichfarbige Bart reichte bis zur Gürtelschnalle. Kettenhemd, Lederwams, Stiefel und Helm machten aus ihm einen vollständigen Krieger. Ein Krähenschnabel - eine Art Kriegshammer mit einem unterarmlangen Sporn auf einer Seite - ruhte neben ihm auf dem Fels, der Griff lehnte gegen die Hüfte.
»Boindil?!«, wisperte er ungläubig. »Boindil Zweiklinge!«, rief er dann freudig und riss den Freund an sich, den er seit fünf Zyklen nicht mehr gesehen hatte. Er schämte sich seiner Tränen nicht, und das laute Schniefen dicht neben seinem Ohr sagte ihm, dass selbst ein gestandener Streiter wie sein Freund seine Gefühle nicht verbarg. »Am Grab meines Bruders Boendal an der Hohen Pforte haben wir uns das letzte Mal gesehen«, weinte Boindil vor Freude.
»Und auch da lagen wir uns heulend in den Armen«, sagte Tungdil und klopfte ihm auf den Rücken. »Boindil! Wie sehr habe ich dich vermisst!« Er ließ den Freund los, mit dem er unglaubliche Abenteuer bestanden, Gutes und Schlechtes, Trauriges und Schönes erlebt hatte.
Der Zwilling wischte sich die Tränenperlen aus dem Bart, die wie an einem Federkleid daran herunterrannen. »Ich fette ihn noch immer regelmäßig«, sagte er und strahlte. »Gelehrter, du hast mir gefehlt.« Tungdil suchte einen Hinweis auf den Wahn, der in dem Krieger geschlummert hatte und gelegentlich hervorgebrochen war. Aber der Blick aus den braunen Augen war nicht länger irre sondern warm und freundlich. »Der Tod verändert auch die Lebenden, hast du einmal zu mir gesagt.« Er klopfte gegen Tungdils Kettenhemd. »Wenn du als Lebender allerdings so weitermachst, wird die Veränderung dein Tod«, neckte er. »Ist das Bier, das Balyndis braut, dermaßen gut?«