»Das Bier liefert uns ein Händler, und es schmeckt lange nicht so gut wie das, welches die Zwerge brauen. Es hat die gleiche Wirkung, bringt am Tag danach jedoch mehr Kopfschmerzen.« Tungdil nahm ihm die Anspielung auf seine Leibesfülle nicht krumm.
Aber die dichten Augenbrauen seines Freundes hoben sich vorwurfsvoll. »Mit anderen Worten: Du bist ein Säufer wie Bavragor geworden«, fasste er zusammen. Er roch den strengen Schweißgeruch, sah die verklebten Haare und das gealterte Gesicht. »Du hast dich gehen lassen, du dicker Held. Was ist geschehen?« »Wir sehen uns nach fünf Zyklen, und du hältst mir eine Predigt«, murrte Tungdil nun doch. »Erzähl mir lieber, was dich von der Hohen Pforte vertrieben hat.« Er schaute sich um und sah die vielen Krieger, die im Sonnenlicht in Reih und Glied angetreten waren, um ihre Kampfübungen zu absolvieren.
»Nichts hat mich vertrieben oder getrieben. Ich brenne nicht mehr auf den Kampf, und die Glut in meinen Adern ist verloschen. Es war die Bitte des Großkönigs, dich zu begleiten. Einer muss ja auf dich aufpassen.« Er tätschelte den Griff des Krähenschnabels. »Und das Andenken an meinen Bruder ehren. Im Gegensatz zu mir sehnt sich der Sporn nach der Schlacht. Er will sich in den Wanst einer Schweineschnauze bohren.« Vor den Reihen der Krieger lief ein Dritter auf und ab; die schwarzen Tätowierungen in seinem Gesicht verrieten seine Herkunft und die meisterliche Profession. Vor wenigen Zyklen noch hätten sich der Dritte und die Zwerge, die er nun befehligte, auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden; inzwischen gab es den unbändigen Hass nicht mehr. Nicht mehr überall.
Boindil folgte seinen Blicken. »Ich wundere mich auch immer noch«, gestand er ein. »Von einigen Ausnahmen abgesehen«, er legte eine Hand auf die Schulter des Freundes, »sind mir die Dritten nach wie vor anrüchig. Ich kann nicht vergessen, dass ein paar von ihnen geschworen haben, uns von innen heraus auszumerzen. Ich fürchte ihre Heimtücke.«
»Ja. Doch sie sind lediglich eine Hand voll und nicht mehr ein ganzer Stamm wie zu Zeiten Lorimbas'. Die Verblendeten werden aussterben«, sagte Tungdil zuversichtlich. »Sind das meine Leute?« Er ging auf die Gruppe zu, sein Freund folgte ihm.
Der Dritte bemerkte das Nahen der beiden und wandte sich ihnen zu. »Ich grüße euch, Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge«, verneigte er sich. »Ich bin Manon Schwertritt aus dem Clan der Todbeils. Dies sind die zwei Dutzend Krieger, die ich eigens für die Mission ins Jenseitige Land vorbereitet habe.« Seine braunen Augen schauten überzeugt. »Nichts wird sie schrecken.«
Boindil lachte freundlich. »Oh, glaube mir, Manon, es wird immer etwas geben, das einen Krieger schreckt.« Er schulterte seine Waffe. »Was nicht bedeutet, dass man es nicht bezwingen kann.«
Manon grinste herausfordernd. »Dann werden dir meine Männer zeigen, dass es Zwerge ohne Furcht gibt.« »Sicherlich finden wir nichts weiter als Schutt und Geröll«, antwortete Tungdil gelassen. »Wann können wir aufbrechen?«
»Sobald du möchtest«, gab Manon zurück.
»Dann morgen bei Sonnenaufgang«, entschied Tungdil und ging zum Turm, um die Treppe hinauf bis zur Spitze zu steigen und auf den Wehrgang oberhalb der Tore zu gelangen. Boindil blieb an seiner Seite. Gemeinsam schauten sie ins Jenseitige Land, das an diesem späten Nachmittag in aller Klarheit vor ihnen lag. Vor dem Tor lag die verlassene Ebene, auf der sich früher die Scheusale und Ungeheuer in regelmäßigen Abständen versammelt und den Sturm auf das Bollwerk versucht hatten.
»Kaum zu glauben, dass sie davon abgelassen haben«, sagte Tungdil leise und genoss den kalten Wind, der ihn umwehte und ihm die Wirkung des Bieres aus dem Schädel blies. Die Luft war eisig, rein, frei von jedem Hauch der Ungeheuer. »Nur noch die uralten Berge können sich an die unentwegten Attacken, an die heranwalzenden Heere von Tions Ausgeburten erinnern.«
»Es wird der Stern der Prüfung gewesen sein«, mutmaßte sein Freund. »Er hat anscheinend nicht nur das Böse im Geborgenen Land vernichtet, sondern über die Grenzen der Gebirge hinaus gewirkt.« Er seufzte. »Stell dir das vor, Gelehrter. Wie friedlich es wäre.« An seinem Tonfall war zu erkennen, dass er es selbst nicht zu glauben wagte.
»Ich erinnere mich an diesen Tag.« Die magische Welle aus Licht, welche nach der Beschwörung der Eoil durch das Geborgene Land gerollt war, hatte alles Schlechte zu Asche verbrannt und dessen Energie in einem Diamanten gefangen. Wer immer dieses Artefakt besäße und die Macht magisch zu nutzen wüsste, würde zum mächtigsten Wesen, das jemals gelebt hatte. Zur Sicherheit waren von den Zwergen genaue Imitate angefertigt und an sämtliche Königreiche verteilt worden; auch Tungdil besaß einen Stein, ohne zu wissen, ob es der echte oder ein falscher war. Aber einer war inzwischen verloren gegangen. Er fragte Boindil danach. »Das ist ein unergründetes Geheimnis. Der Stein, der zu Königin Isika von Ran Ribastur gelangen sollte, ist verschwunden. Bis heute«, antwortete er. »Man fand weder den Boten noch die Eskorte, die den Diamanten beschützen sollte. Der Diamant ist nie wieder aufgetaucht.« Er schaute zum wolkenumspielten Gipfel der Drachenzunge; die Berghänge strahlten malerisch dunkelrot im Schein der untergehenden Sonne. Die Schatten wurden länger, und die Brise wehte mit jedem Wimpernschlag eisiger. »Alle Nachforschungen haben nichts gebracht.«
»Das war vor fünf Zyklen«, überlegte Tungdil und fröstelte. »Hat es seitdem Versuche gegeben, einen der Steine zu stehlen?«
»Mir ist nichts bekannt«, sagte Boindil und schüttelte den Kopf; der schwarze Zopf pendelte auf seinem Rücken wie ein langes Tau. »Es gibt keinen Magus und keine Maga mehr im Geborgenen Land, und damit gibt es keinen, der die Macht nutzen könnte.«
»Bis auf die Hand voll Famuli, welche bei dem Verräter Nöd'onn in die Lehre gegangen sind«, verbesserte Tungdil.
»Sie besitzen keine Kräfte. Die Magiequelle, sagt man, ist durch die Eoil ausgetrocknet worden und versiegt. Woraus sollten die Famuli ihre Kräfte beziehen? Außerdem ist ihre Ausbildung nicht abgeschlossen. Was können sie schon bewirken, Gelehrter?«
Tungdil sparte sich eine Entgegnung. Er war bei dem Magus Lot-Ionan und in dessen Schule aufgewachsen; er kannte die Fähigkeiten der Magischen. Aber da sich lange Zeit nichts gerührt hatte, schloss er sich der Zuversicht seines Freundes an. Zu viel Schwarzseherei stand selbst ihm nicht gut an. »Lass uns nach unten gehen. Der Frühling lässt am Nordpass noch auf sich warten.« Er warf einen Blick zu den majestätischen Bergkämmen, wo der Wind Schnee von den Felsen blies und den Gebirgen weiße Fahnen anheftete. »Ich freue mich auf ein warmes Bier mit Met.«
Sie stiegen die Treppen nach unten.
»Wie geht es Balyndis?«, erkundigte sich Boindil, als sie den Turm verlassen hatten und auf den Stollen zugingen. »Was tut die beste Schmiedin des Geborgenen Landes?«
»Sie trauert«, sagte Tungdil bitter und so abweisend, dass der Krieger nicht wagte, weiter zu fragen. Vorerst. Stumm liefen sie nebeneinander her und suchten ihre Quartiere.
»Pst! Tungdil Goldhand!«, drang es plötzlich leise aus einer spaltbreit geöffneten Tür. »Hast du einen Augenblick?«
Boindil runzelte die Stirn. »Was soll die Geheimniskrämerei?« Er ging voran, stieß die Tür auf, eine Hand an den Griff des geschulterten Krähenschnabels gelegt. »Zeig dich, wenn du ein ehrliches Anliegen hast!« Eine Frauenstimme rief erschrocken auf, da sie den Zwilling nicht bemerkt hatte. »Du kannst kommen, Gelehrter. Sie ist harmlos«, sagte Boindil über die Schulter hinweg.
Tungdil trat an ihm vorbei in den Raum, in dem eine Zwergin stand. Sie trug einfache Kleidung und hatte sicherlich dreihundert Sonnenzyklen erlebt. »Was möchtest du?«