Sie neigte das ergraute Haupt vor ihm. »Verzeih mir, dass ich dich angesprochen habe, aber... stimmt es, was ich gehört habe? Dass du ins Jenseitige Land gehst?«
»Das ist kein Geheimnis.«
»Ich bin Saphira Eisenbeiß.« Sie zögerte, schlug die Augen nieder. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« »Soll er dir etwa ein Andenken aus dem Jenseitigen Land mitbringen?«, meinte der Zwilling spöttelnd. »Meinen Sohn, wenn ihr ihn findet«, stieß sie hervor und packte verzweifelt Tungdils Rechte. »Ich bitte dich, halte deine Augen nach ihm offen! Sein Name ist Gremdulin Eisenbeiß aus dem Clan der Eisenbeißer. Er ist ungefähr so groß wie du, er trägt einen Helm mit einem goldenen Mond über der Stirn...«
»Ich dachte, es wurden keine Späher ausgesandt?«, wunderte sich Tungdil, dessen Neugier erwachte. Misstrauen loderte in ihm empor. Er traute Gla'imbar durchaus zu, ihn in eine Falle laufen zu lassen, vielleicht als eine Art späte Rache, dass er Balyndis erobert und sie sich über alle Grenzen der zwergischen Bräuche hinweggesetzt hatte.
»Er war kein Späher, er hatte Wache am Tor«, sagte sie leise und rang mit der Fassung. »Seine Freunde erzählten mit, dass er ein verdächtiges Geräusch gehört hatte und nachsehen wollte.«
»Am Tor?«, schaltete sich Boindil ein.
»Nein. Angeblich kam es von oberhalb der Pforte. Ein rollender Stein oder so etwas.« Ihre Augen wurden feucht. »Das ist das Letzte, was sie von ihm wissen.«
Tungdils Herz war gerührt, aber nicht erschüttert. Er kannte den Zwerg nicht einmal, um den es ging. »Wann war das?«
»Vor einem halben Zyklus«, schluchzte sie. »Ich bin mir sicher, dass die Ungeheuer Tions ihn entführt haben, Tungdil Goldhand. Wenn ihn einer befreien kann, dann du.« Sie küsste seine Hand. »Ich bitte dich, bei Vraccas! Rette ihn, wenn es dir möglich ist!« Die Tränen brachen aus ihr hervor, sie sank vor ihm auf die Knie. Boindil taten seine schnellen Worte von vorhin Leid. Er hatte sie zu Unrecht verdächtigt, mit einem lächerlichen Wunsch an seinen Freund heranzutreten. »Wir werden die Augen offen halten, gute Saphira«, brummte er freundlich. »Verzeih mir meine Worte.«
Tungdil half ihr auf die Beine. »Steh auf. Es gibt keinen Grund, vor mir niederzuknien und mich um Hilfe zu bitten. Ich tue das, was jeder Zwerg tun würde.«
Sie lächelte ihn an, wischte sich die Tränen von den beflaumten Wangen. »Vraccas segne dich, Tungdil Goldhand!« Sie nahm ein goldenes Amulett aus ihrer Tasche und hängte es ihm um. »Es gehört meinem Sohn. Er wird erkennen, dass ich dich geschickt habe. Und solltet ihr ihn nicht finden, behalte es als Dank, dass du es versuchst hast. Es würde ihn stolz machen, dass ein Held wie du seinen Schmuck trägt.«
Er betrachtete den Anhänger, der einen silbernen Mond vor einer goldenen Gebirgskette zeigte. »Ich danke dir. Wie kommt es, dass dein König ihn nicht suchen ließ?«
Ihre Augen sprühten Feuer. »Er hat ihn suchen lassen, einen halben Umlauf lang. Sie fanden seinen Schild neben einer tiefen Felsspalte und nahmen es als gegeben, dass er hinabgestürzt war.«
»Was macht dich sicher, dass es nicht so ist?« Boindil betrachtete sie forschend. »Nicht, dass du denkst, ich wünschte ihm den Tod.«
»Eine Mutter spürt, wenn ihr Kind gestorben ist.« Sie lächelte schwach. »Aber er ist es nicht. Ich weiß, dass er lebt und auf Hilfe wartet.«
Tungdil zuckte bei ihren Worten zusammen, als sei er von einem Albaepfeil durchbohrt worden. Er wandte sich ab. »Vertraue auf ihr Gefühl«, war alles, was er zu Boindil sagte, dann verließ er die Kammer. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um. »Wir bringen dir deinen Sohn. Tot oder lebendig.«
Am nächsten Morgen verließ die kleine Gruppe die Geborgenheit des Zwergenreichs und schritt auf den Nordpass zu, der sie mit schneidenden Winden begrüßte. Die Böen sangen an den Felskanten ein vielstimmiges Lied, und Tungdil war sich nicht sicher, ob sie die Zwerge verhöhnen oder warnen wollten. »Der Wind hat den Vorteil, dass er den Nebel wegbläst«, meinte Boindil undeutlich hinter dem Schal hervor, den er sich vor das Gesicht geschlungen hatte. Die Augen schauten hervor, auch wenn er fürchtete, sie gefrören bei der Kälte zu kleinen Eisbällen.
»Hier draußen«, stellte Tungdil richtig. »Sobald wir in die Gänge gelangen, wird uns der verdammte Dunst empfangen. Da bin ich mir ziemlich sicher.« Er schwieg eine Weile und schaute zu den Wänden hinauf. »Ich frage mich, was die Ungeheuer wohl mit dem armen Gremdulin anstellen wollen.«
»Die Losung von ihm erfahren«, schätzte Boindil. »Die Schweinchen scheinen allmählich schlauer zu werden. Aber ihre Tat nutzt ihnen nichts. Allein der König und zwei seiner Vertrauten kennen die Worte, welche die Riegel öffnen.«
»Das gestehe ich ihnen zu.« Er deutete auf die steilen Hänge. »Kennst du ein Lebewesen, das nicht fliegen kann und diese Wände bezwingt? Und wenn es Orks waren, warum kletterten nicht mehr von ihnen dort entlang, eroberten die Mauer und ließen Seile für die anderen hinab?« Seine braunen Augen wanderten suchend über das Grau, das hier und da von Schnee verziert wurde. »Boindil, ich glaube, da stimmt einiges nicht.« »Ein neues Abenteuer, Gelehrter«, grinste Boindil. »Wie früher.«
»Nein«, erwiderte Tungdil und schüttelte den Kopf. Dann nahm er einen Schluck Branntwein aus seinem Lederschlauch. »Nein, nicht wie früher. Es wird niemals mehr wie früher sein. Dafür sind zu viele von unseren Freunden und Kampfgefährten tot.« Er beschleunigte seine Schritte und setzte sich an die Spitze der Abteilung. Manon begab sich an Boindils Seite. »War Tungdil Goldhand schon immer... so«, erkundigte er sich vorsichtig. »Was meinst du damit?«, polterte der Zwilling.
»Versteh mich nicht falsch. Er wird sicher ein guter Anführer sein, doch... Die Krieger wundern sich über ihn. Wir haben Geschichten von seinen Taten gehört. Von seinem Äußeren.« Er schaute vorsichtig zu Tungdil. Es fiel ihm nicht leicht, die Gedanken seiner Leute auszusprechen. »Sein Äußeres stimmt nicht mit dem Helden überein, den sie sich vorgestellt haben. Und es gibt Gerüchte... über sein Benehmen beim Essen mit dem Großkönig. Er soll ständig betrunken sein.« Manon senkte den Blick. »Für meine Krieger scheint es, als stimmten die Nachreden.«
Da sind sie nicht allein, dachte Boindil im Stillen. »Ruf sie zur Ordnung«, befahl er knurrig. »Sie sollen sich nicht das Maul wie Waschweiber zerreißen. Du wirst sehen, dass Tungdil immer noch ein Held ist.« Er konnte nur hoffen, dass er sich mit diesen Worten nicht zum Lügner gemacht hatte. Stumm bat er um Kraft für seinen Freund, damit aus ihm wieder ein Zwerg wurde, wie er einer sein sollte. Wie er von Vraccas geschaffen worden war.
Manon nickte und kehrte an seinen Platz im Zug zurück.
Nach mehr als einem halben Umlauf betraten sie einen Gang, der sich nach hundert Schritten mit Nebel füllte. »Hier sind wir wohl richtig«, gluckste Boindil. »Ich erinnere mich genau.« Er schnupperte in den Dunst. »Das ist er: feucht, kalt, ekelhaft.«
»Fehlen nur noch die Orks von damals«, meinte Tungdil leise und wies seine Begleiter an, die Waffen zu ziehen. »Gebt Acht. In dieser Suppe sieht man den Feind erst, wenn er vor einem auftaucht. Und seid leise. Je mehr Krach ihr macht, umso besser wissen die Gegner, wo ihr euch befindet.«
Sie pirschten in den Nebel. In Tungdil und Boindil stieg die Erinnerung auf. »Es waren drei Schweinchen«, flüsterte Ingrimmsch.
»Zwei haben wir erledigt, aber einer ist uns entkommen, weißt du noch?«
Wie hätte er den Anblick der verstümmelten Zwergenleichen vergessen können. Der entkommene Ork hatte vor seiner Flucht grauenvoll unter ihren Begleitern gewütet. »Sei still!«
»Vielleicht ist der Ork immer noch da?«, murmelte Boindil und zog den Kopf zurück; der Atem seines Freundes war alkoholgeschwängert und roch sauer. »Oh, am Ende bekomme ich doch noch Lust auf einen Kampf!« »Boindil!«, herrschte er seinen Freund an. »Schweig endlich!«