»Und wenn der Unauslöschliche auch in dieser Starre gefangen lag und sich aus eigenen Kräften befreite?«, schlug Rodario vor. Seine Augen fingen an zu leuchten. »Ich stelle es mir vor, wie die beiden in den Höhlen gefunden werden und die Orks, die in den Tiefen überlebten, über die Albin herfallen und sie zum Opfer ihrer tierhaften Begierde machen. Immer wieder schänden sie den Leib der Schönen, der sie verfallen sind. Als der Alb endlich aus der Lähmung erwacht, tötet er die Bestien, verbündet sich mit den Dritten und sendet die Bastarde hinaus in das Geborgene Land, damit sie seinem Willen dienen.« Er schluckte, sein Blick ging in die Ferne, ohne ein Ziel zu erfassen. Es war der Blick des Schauspielers, der bereits die nächste Aufführung plante. »Und dann, um eigenes, reines Fleisch und Blut zu erhalten, nimmt er die Albin und zeugt mit ihr den Alb, den wir auf der Insel sahen. Ein Kind von Bruder und Schwester, reiner als jeder andere Alb und von allerhöchstem Stand. Oh, welch ein Drama.«
Mallen lächelte nachsichtig. »Mit Euch geht wohl die Phantasie des Schauspielers durch, Rodario.« »Nehmt es als eine Variante einer möglichen Wahrheit, denn die wahre Begebenheit werdet Ihr niemals erfahren. Ich denke nicht, dass der Unauslöschliche Euch Rede und Antwort stehen wird.« Rodario verneigte sich. »Mir gefällt diese Geschichte ausnehmend gut.«
»Jedenfalls passt sie zu den Albae«, meinte Tungdil müde. »Ich begebe mich nun zur Ruhe, wenn es recht ist. Betet in der Nacht für uns.«
Der Eingang flog auf, ein Zwerg erschien und verneigte sich vor der Runde. Er trug viel Staub auf seiner Rüstung, roch nach Schweiß, Pferd und Dreck, das Gesicht war von der Sonne verbrannt. »Helft den Vierten, wenn euch das Geborgene Land lieb ist«, keuchte er und reichte Mallen eine Ledertasche. »Ich bin Feldolin Schleifenstein aus dem Clan der Thystfinder vom Stamm der Vierten. Eine Nachricht aus dem Braunen Gebirge. Wir werden von unglaublichen Wesen belagert!«
»Sind sie so groß wie zwei Zwerge, tragen Rüstungen, und ihre Augen leuchten violett?«, fragte Sirka zu ihrer aller Überraschung. »Ihre Stimme ist wie pfeifender Wind und das Grollen von Donner zugleich?« »Bei den Göttern, Ihr beschreibt Djerün!«, entfuhr es Rodario. »Das klingt nach dem Leibwächter Andökais, diesem Gebirge aus Stahl und der Kraft von unzähligen Männern.«
Mallen öffnete die Mappe und nahm eine schriftliche Schilderung der Ereignisse am Hohlweg hervor sowie eine Skizze der Wesen, welche die Silberfeste belagerten. »Noch mehr Freunde, die aussehen wie Feinde?«, merkte er an.
»Es sind die Acronta«, erwiderte Flagur. »Wir haben sie gebeten, die Zwerge zu beschäftigen, damit wir mit unserem Heer unbemerkt über den Pass gelangen. Wir wollten nicht in einen Kampf verwickelt werden, weil wir die Zwerge sonst hätten besiegen müssen. Dabei sind auch sie Geschöpfe von Ubar.« Er grinste den Boten an, der den Ubari jetzt erst bemerkte und erschrak. »Sie werden euch nichts tun.«
»Die Acronta«, wiederholte Tungdil. »Wie viele gibt es von ihnen?«
»Wir wissen es nicht. Aber ihr Heer, das uns gegen größere Ausgeburten des Bösen beisteht, umfasst etwa dreitausend Klingen.«
»Ihr Götter«, murmelte Rodario. »Dreitausend von diesen Geschöpfen? Und was für Wesen leben bei Euch im Jenseitigen Land, dass Ihr so viele Acronta benötigt, um sie niederzuwerfen?«
»Ich habe niemals gesagt, dass es einfach ist, in Letefora zu leben.« Flagur spannte die Muskeln an, und jeder Ork wäre vor Neid erblasst. »Aber das ist nichts gegen die Wesen, die aus der Schwarzen Schlucht steigen werden. Um sie abzuwehren, bedarf es Tausender Acronta.«
Tungdil nickte dem Boten zu. »Du hast gehört, was wichtig ist. Bring die erleichternde Botschaft zu den Vierten und deinem...« Er hatte König sagen wollen, als ihm einfiel, dass der König der Vierten Gandogar gewesen war. Sein Leichnam befand sich auf dem Weg ins Braune Gebirge, um bei den anderen toten Herrschern der Vierten seine letzte Ruhe zu finden. Die Seele befand sich bereits in der Ewigen Schmiede und würde ihnen von dort aus zuschauen.
»Der Thron ist nicht verwaist«, sagte Feldolin. »Ihr Name ist Bylanta Schmalfinger aus dem Clan der Silberbärte. Sie ist die Schwester von Gandogar und führte die Geschäfte des Reiches, während er in seinem Amt als Großkönig umherreiste. Sobald sich die Dinge im Geborgenen Land und an unserer Grenze beruhigt haben, wird Gandogar gebührend betrauert und ihre Regentschaft würdig gefeiert.«
Tungdil schritt an ihm vorbei. »Überbringt ihr meine aufrichtigsten Wünsche und den Segen von Vraccas.« Er hob die Hand zum Gruß. »Ich verabschiede mich nun wirklich.«
Er und Sirka verließen das Zelt und schritten durch das Lager des Menschenheeres dorthin, wo immer noch die Zelte der Zwerge standen.
Die hellen Flecke auf dem Gras verrieten, dass einige der Krieger ihre Lager abgebaut hatten und aufgebrochen waren. Vermutlich schlössen sie sich Ginsgar Ungewalt an.
»Du wirst mich in die Schwarze Schlucht begleiten?« Sirka betrachtete den Zwerg von der Seite, während sie ihre Unterkunft betraten.
»Ja. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Diamant dorthin gelangt, wo er dem Geborgenen Land den meisten Nutzen bringt. Und das ist nicht hier.« Er legte sich vorsichtig auf das karge Feldbett. Sein Kopf schmerzte, die linke Augenhöhle klopfte und pochte grauenvoll und lähmte sein Denken. Er nahm ihre Hand. »Sirka, ich bin der unbeständigste Zwerg, den das Geborgene Land jemals gesehen hat«, gestand er ihr. »Ich spüre große Zuneigung für dich, aber...« Er schwieg und streichelte über ihren kahlen Kopf; die braune Haut bekam durch die Lampen einen goldenen Schimmer.
»Mehr verlange ich nicht von dir, Tungdil«, sagte sie.
»Ich werde dir keine ewige Treue schwören, nicht bis ans Ende meiner Tage.« Er seufzte, »Ich tat diese Lüge einmal Balyndis an, weil ich dachte, dass meine Gefühle niemals ins Schwanken gerieten.« Er klopfte gegen seine Brust. »Diese verfluchte Unruhe steckt in mir! Sie treibt mich davon, und es könnte dir genauso ergehen. Ich werde keiner Frau mehr den Ehernen Bund versprechen.«
»Diese Unruhe ist der Grund, weswegen es deine Heimat überhaupt noch gibt. Ohne Wesen wie dich bliebe die Entwicklung stehen, weil keiner wagte, Neues zu tun, aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen. Es ist gut, so wie es ist.« Sie schaute ihn an. »Stimmt es, dass ihr ewig lebt?«
»Was? Nein, wir werden nur sehr alt, Sirka. Ich bin mit meinen siebzig Zyklen noch ein junger Zwerg. Die ältesten von uns können bis zu sechshundert Zyklen sehen, heißt es.« Er erkannte an ihrem Gesicht, dass sie erschrak. »Was ist?«
»Das ist ein Unterschied zu uns«, sagte sie leise. »Wir erreichen höchstens sechzig Sternenzüge. Die meisten von uns vergehen mit fünfzig.«
»Fünfzig?« Die Kunde überraschte ihn. »Wie alt bis du, Sirka?«
»Ich bin einundzwanzig. Meine Nachkommen sind sieben, fünf und drei...«
»Deine Nachkommen.« Er sagte das sachlich und nüchtern. »Und wo sind sie nun?«
»Ich hatte dir gesagt, dass wir uns lieben und uns wieder verlassen, wenn es vorbei ist. Wir zwingen niemanden, an der Seite des anderen zu verharren, wenn die Gefühle kalt und erloschen sind. Wir sind ein leidenschaftliches Volk.« Sie gab ihm einen Kuss. »Meine Kinder leben in Letefora. Sie werden von der Gemeinschaft erzogen, und ich besuche sie regelmäßig.«
»Wissen sie überhaupt, wer du bist?«
»Sie nennen mich ihre Mutter, aber das ist weniger von Bedeutung. Es sind die Kinder aller, jeder kümmert sich um den Nachwuchs der anderen, als wäre es der eigene.« Sie streichelte seine Brust. »Ruh dich aus. Deine Energie ist bewundernswert.« Sie rührte ein helles Pulver in eine Schale Wasser und reichte es ihm. »Trink das. Es wird deine Schmerzen lindern.«
Er tat, wie ihm geheißen, und nicht lange danach wurde das Klopfen in seiner Augenhöhle weniger und erlaubte ihm einzuschlafen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit suchten ihn keine Albträume mehr heim.