Er sah das Jenseitige Land vor sich, wie es ihm seine Vorstellungskraft vorgaukelte, voller Schönheit und neuen Wesen und neuen Dingen. Sirka diente ihm als Führerin in diese neue Welt, die ihn lockte und reizte. Auch wenn er vieles erst verstehen würde, wenn er es mit eigenem Auge sah.
Die Herde Befüns, die Reittiere, von denen die Ubariu gesprochen hatten, schien geradezu monströs. Sie sahen aus wie übergroße Orks, die auf vier anstatt auf zwei Beinen liefen, und hatten einen kurzen Stummelschwanz. Der Leib war muskulös und breit wie ein Pferd, der Kopf flach und mit einer platten Schnauze versehen, aus der unzählige Zähne hervorstanden. Sie besaßen wirklich Hände mit drei Fingern, die von einer dicken Hornschicht überzogen waren und mit denen sie große Dinge greifen konnten.
Tungdil wunderte sich über die Form des Sattels, denn er besaß eine Rückenlehne, die hoch gezogen und ähnlich wie ein kleiner Baldachin gebogen war. Er fragte Sirka nach dem Grund für diese Konstruktion, während er die Zügel in die Hand gedrückt bekam. Nach Steigbügeln suchte er vergebens.
»Sie richten sich in einem Kampf auf und helfen dem Reiter mit ihren Klauen. Damit es uns nicht auf den Boden wirft«, sie wackelte an der Rückenlehne, »haben wir sie verlängert. Du gleitest wie von selbst in die richtige Lage.«
Rodario machte sich mit seinem Befün vertraut. »Es stinkt, oder?« Er roch an der hellgrauen Haut. »Ich finde, es stinkt sogar sehr.«
»Es kommt von ihren Drüsen. Sie scheiden eine Substanz ab, die ihre Haut zäher werden lässt. Eine Pfeilspitze kann sie nicht verletzen, und selbst ein Schwerthieb eines unserer Krieger richtet kaum etwas gegen sie aus.« Sirka deutete auf eine Stelle auf dem Kopf, die feucht glitzerte. »Daraus entweicht von Zeit zu Zeit Flüssigkeit. Nicht anfassen, wenn Euch Euer Leben lieb ist.« »Ist es Säure?«
»Nein. Es ist ihr Paarungssekret. Wenn Ihr nicht von einem anderen Befün zum Liebesspiel erkoren werden möchtet, gebe ich Euch den Rat, die Finger davon zu lassen.«
»Oha.« Rodario rutschte auf seinem Sattel ganz nach hinten. »Ich bin ja durchaus ein Freund des Liebesspiels, aber nicht unbedingt mit dieser hinreißenden Gattung. Ich würde es vermutlich nicht überleben?« »Nein. Würdet Ihr nicht.« Sirka schwang sich in den Sattel und winkte nach hinten, um die restlichen Soldaten ihrer Truppe zusammenzurufen. Sie rief etwas in einer unbekannten Sprache, die so elegant klang, dass es an Elbisch erinnerte.
Flagur ritt an ihre Seite, sofern man die Bewegungen der Befüns reiten nennen konnte. Es war mehr ein rhythmisches Hopsen, das den Reiter im Sattel und vor allem dessen Rücken und den Magen arg belastete. Dafür bewegten sie sich sehr schnell und wendig. Zusammen mit einem gepanzerten, bewaffneten Ubariu auf dem Rücken war es kein Gegner, den Tundil gegen sich gerichtet haben wollte. »Wir brechen auf«, gab er bekannt. »Wir werden, wenn die Entfernung stimmt, die mir gesagt wurde, in fünf Sternenzügen dort sein.« »Das ist sehr schnell«, sagte Tungdil »Das wären am Tag mehr als zweihundert Meilen!«
Flagur grinste. »Ich vergesse ständig, dass die Dinge im Geborgenen Land sich etwas anders verhalten als bei uns. Die Befüns laufen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, mehr Ruhe zum Schlafen und Fressen benötigen sie nicht. Sie sind ideal für die Bedingungen bei uns zu Hause.« Er schnalzte mit der Zunge und gab ein seltsames Geräusch von sich, und der Befün trabte los.
»Das ist unglaublich! Ich kann es kaum erwarten, den Diamanten in deine Heimat zu begleiten«, sagte Tungdil zu Sirka.
»Und ich kann es kaum erwarten, sie dir zu zeigen.« Sie berührte ihn sanft an der Hand und folgte Flagur nach. Ihr Tross machte sich auf die schnelle und sehr ungewöhnliche Reise, die sie durch den trockenen Norden Sangreins, durch die Ausläufer der Wälder von Ran Ribastur bis nach Weyurn führen würde, um die eintausend Meilen weit. Am ersten Umlauf ihrer Reise ging es durch Idoslän. Der kürzere Weg hätte wohl durch Sangreins heißes Wüstenherz geführt, aber dieses Wagnis wollte Tungdil nicht eingehen: Sandstürme und Trockenheit könnten tödlicher als jeder Alb sein.
Lot-Ionan hatte die größten Schwierigkeiten, sich an das Tier zu gewöhnen. »Ich war sicherlich einst ein guter Reiter und saß sicher in jedem Sattel«, klagte er gegen Mittag Tungdil sein Leid. »Doch diese Befün sind eine schwierige Herausforderung.« Wie alle bewegte er sich in unregelmäßigen Abständen vor und zurück, hin und her; seinen Bart hatte er vorsichtshalber unter den Tragegurt seines Rucksackes geklemmt, damit er ihm nicht ins Gesicht wehte.
Tungdil spürte ebenfalls all seine Knochen im Leib, mehrmals biss er sich auf die Zunge oder die Wange. Nein, wenn man die Tiere nicht gewohnt war, erwies sich der Ritt auf ihnen als äußerst unbequem. Sirka, Flagur und die restliche Truppe beherrschten das Kunststück, dabei auch noch gut auszusehen und Eindruck bei den Menschen zu schinden, an denen sie bei ihrer Reise vorbeikamen.
Ihr ungewöhnlicher Anblick verbreitete nicht nur Befremdung, sondern handfeste Angst und den Wunsch nach Verteidigung. Orks kannte man nur zu gut aus den alten Geschichten, und diese hier sahen noch gefährlicher aus als die alten. Nur das Siegel sowie die Banner von Mallen und Bruron verhinderten, dass sie von aufgeregten Soldaten angegriffen wurden.
Flagur gewährte keine Rast, bis die Sonne versank. Beinahe augenblicklich blieben die Befüns stehen und legten sich wie Hunde zur Ruhe hin; die Sättel blieben, wo sie waren.
Rodario hechtete mehr auf den Boden, als dass er abstieg. »Was, bei den Göttern, hat denn das wieder zu bedeuten?«
»Sie sehen nicht sehr gut in der Dunkelheit, und bei der Dämmerung lässt ihr Augenlicht bereits nach. Damit sie nicht aus Versehen gegen einen Baum oder einen Felsen springen, legen sie sich hin und warten, bis es wieder heller wird.« Sirka nahm ein Netz aus dem Rucksack an ihrem Befün und ging zum Bach. »Kommt einer von euch mit und hilft mir, ihr Fressen zu fangen?«
»Fische?« Tungdil begleitete sie. »Diese Kreaturen fressen Fische? Sie sehen mehr nach Raubtieren aus.« »Sind sie auch. Sie fressen alles«, sagte sie und betonte es so, dass er nicht weiter nachfragte. »Deswegen ist es sehr wichtig, dass sie keinen Hunger bekommen und satt sind. Wenn sie sich selbst auf die Jagd begeben, ist die Umgebung nicht mehr sicher.«
»Ich verstehe.« Er watete ins Wasser. »Wirf ein Ende zu mir. Wir bauen eine Sperre«, schlug er vor. »Lassen wir die Fische und die Strömung die Arbeit tun, anstatt uns beim Werfen der schweren Maschen die Schultern müde zu machen.« Sie willigte ein, und gemeinsam errichteten sie aus Stöcken und Ästen eine Schwimmreuse. Tungdils leere Augenhöhle begann wieder zu schmerzen, und Sirka gab ihm etwas von dem Pulver, das er mit Wasser aus der hohlen Hand schlürfte.
Die unterschiedlichsten Insekten zirpten ein Ständchen, in das die Abendvögel bald einstimmten. Tungdil wurde bewusst, dass es einer der wenigen Abende war, an denen sie von schlechten Überraschungen verschont wurden. »Keine Albae, keine Orks«, seufzte er erleichtert und sank ins Gras der Böschung.
»So ist es auch in Letefora«, sagte Sirka und stützte sich mit den Ellbogen auf, um die Reuse im Auge zu behalten. »Möge Ubar uns helfen, dass es so bleibt. Es sind schon zu große Opfer erbracht worden, und es wäre zu schrecklich, wenn es uns nicht gelingen würde.« Sie schaute ihn an. »Balyndis, so ist ihr Name?« Er nickte. »Ich möchte aber nicht über sie sprechen.«
Sirka betrachtete sein ernstes Gesicht. »Ich bin sehr glücklich, dass wir beide zueinander gefunden haben. Egal, wie lange es hält.« Sie küsste ihn auf den Mund.
Er streichelte ihren Nacken und zog sie an sich.
Sie legte den Kopf auf seine Brust und lauschte seinem Herzschlag. »Ich kann nichts Ungewöhnliches daran erkennen«, sagte sie nach einer Weile.
»Was dachtest du denn?«
»Ein Herz, das viele hundert Sternenzüge schlägt, sollte anders klingen. Aber das tut es nicht. Es schlägt nicht einmal langsamer.«