»Nein«, kam es sofort über Lot-Ionans Lippen. Er presste die Lider fest zusammen, drückte den Diamanten nun mit beiden Händen, als ließe sich die Kraft wie aus einer Frucht quetschen. Es tat sich nichts. Da erklang der Schrei Rodarios, und er hörte den Aufprall eines Körpers.
»Zu langsam, alter Freund. Niemand steht mehr zwischen dem Unauslöschlichen und dir. Die tapfersten Helden des Geborgenen Landes sind besiegt«, sagte Nudin. »Mein Angebot steht noch, Geduldiger. Mit deiner berühmten Geduld wirst du heute nicht weit kommen, das sage ich dir gleich.«
Lot-Ionan öffnete die Augen und sah den Alb zwei Schritt von sich entfernt. Visionen eines zerstörten Geborgenen Landes flammten in seinem Verstand auf. Horden von Bestien in nie gekanntem Ausmaß strömten aus dem Norden, entsprungen aus der Schwarzen Schlucht, und vereinigten sich mit den Monstren aus dem Westen. Gemeinsam verwüsteten sie das schutzlose Land und brachten ihm den Untergang. Nichts blieb außer Enklaven des Grauens, verbrannt und geschändet, und die Menschen wurden zu Dienern des Bösen. Der Alb schob sein Visier nach oben und zeigte dem Magus sein anmutiges Gesicht, in dem zwei schwarze Löcher anstelle der Augen saßen.
Die Schönheit war lähmend und entwaffnend. Lot-Ionan spürte, wie sein Widerstand schwand und er sich wünschte, diesem Wesen jeden Wunsch zu erfüllen. Es müsste ihn nur um den Stein bitten, und er... »Nein«, schrie er dem Alb entgegen und bäumte sich gegen dessen Anziehung auf, auch wenn er sich ihr nicht auf Dauer zu entziehen vermochte. »Hilf mir, Nudin«, sagte er leise.
»Sehr gern, alter Freund.«
Ein brennender Schmerz durchfuhr Lot-Ionans Rückgrat, wanderte daran entlang, schoss durch die Schulter in den Arm und breitete sich bis in die Fingerspitzen aus. Sofort danach entflammte der Diamant in kaltem grünem Feuer.
Und auf einmal kehrte das Wissen des Magus zurück. Ihm fielen die Sprüche ein. Viele Sprüche. Sie kamen wie von selbst in seinen Verstand, sein Mund und seine Hände formten Zauber, um sie gegen den Alb zu schleudern. Der Unauslöschliche wurde von der Wucht der magischen Attacke überrascht. Eine Sphäre aus malachitfarbenem Licht schloss ihn ein, aus der er nicht hinausgelangte. Ein Gedanke von Lot-Ionan genügte, und die schimmernde Kugel verkleinerte sich, bis der obere Rand an den Helm des Albs stieß. Er ging in die Hocke und versuchte verzweifelt, ein Loch in sein Gefängnis zu schlagen, doch es misslang. Derweil schrumpfte die Sphäre weiter und weiter, drückte und presste den Alb zusammen. Das Tionium verbog sich, Knochen brachen, bohrten sich durch die Haut und durch die Organe des Unauslöschlichen; sein Blut floss in Strömen in den Staub. Schrill tönten seine Schreie durch den Stollen.
Die Kugel besaß inzwischen den Durchmesser eines kleinen Wagenrades, zog sich enger und enger zusammen, schrumpfte auf die Größe einer Kristallkugel, einer Murmel. Die Magie formte aus dem Unauslöschlichen ein blutiges Ding aus Fleisch und Metall, aus dem jegliches Leben gewichen war.
Lot-Ionan ließ die Sphäre verschwinden, und die kleine Kugel rollte in den Staub. Mithilfe seiner neu gewonnen Macht hob er sie an, ohne das widerliche Gebilde berühren zu müssen, und ließ es in die Maschine schnellen. »Bist du mit mir zufrieden, Geduldiger?«, erkundigte sich Nudins Stimme. »Ich finde, wir haben uns sehr gut ergänzt.«
Der Magus achtete nicht darauf, sondern kümmerte sich rasch um seine Begleiter. Für Tungdil kam jede Hilfe zu spät. Das Albschwert hatte das Herz zerschnitten. »Nein«, raunte er erschüttert. Erinnerungen an glückliche Zyklen stiegen aus der Tiefe seines Gedächtnisses, der friedliche Stollen, Tungdil am Amboss oder lachend in der Küche mit der Magd Frala und ihren Kindern, denen der Zwerg etwas vorlas. Wie viel hätte er gegeben, um in diese Zeit zurückzukehren. Mit allen, die er seitdem verloren hatte.
»Versuche es«, raunte Nudin verführerisch.
»Was soll ich versuchen?«
»Ihn zum Leben zu erwecken.«
»Ihn zu einem Untoten zu machen? Ich kann es nicht. Und selbst wenn es in meiner Macht stünde, nein, dann soll er lieber...«
Nudin lachte, wie ein Erwachsener über ein ahnungsloses Kind lacht. »Geduldiger, deine Macht ist unermesslich. Die Götter wären neidisch auf dich. Versuche es.«
»Nein.«
»Versuche es. Du wirst nicht enttäuscht werden.«
Zuerst legte Lot-Ionan zögernd die linke Hand auf den Körper des Zwergs, die rechte hielt den Stein umklammert. Heilungszauber mischten sich mit Bildern von einem lebendigen Tungdil.
Die Magie wirkte!
Als sich der Schnitt schloss und das Herz unter seinen Finger zu schlagen begann, konnte der Magus es selbst nicht glauben. Er hatte die Macht über Leben und Tod erlangt, eines der ältesten Ziele von Generationen von Magi und Magae! Einfach so, ohne zyklenlanges Forschen, Erfinden von Formeln und Experimentieren. Alles, was es bedurfte, hielt er in seinen Fingern.
Tungdils Lider flatterten, und dann schaute er seinen Ziehvater an. »Ehrenwerter Lot-Ionan? Bin ich tot?« Hustend richtete er sich auf, spuckte Blut und Staub aus. Ungläubig betastete er das zerschnittene Kettenhemd, das ihm sehr genau zeigte, wo das Schwert des Unauslöschlichen ihn getroffen hatte. »Ich muss tot sein.« Er runzelte die Stirn. »Er hat mich getroffen und...« Hastig schaute er sich nach dem Alb um und stand auf. Dabei bemerkte er, dass auch die schwere Verletzung an seinem Oberarm verschwunden war. »Wo ist der Unauslöschliche?«
»Tot.« Lot-Ionan strich ihm über den Kopf, wie er es früher getan hatte. »Der Diamant, Tungdil. Er ist unglaublich mächtig und vermag... Wunden zu heilen, wie nichts anderes im Geborgenen Land.« Er wollte nicht, dass sein Ziehsohn erfuhr, dass er eigentlich in Vraccas' Ewiger Schmiede stehen sollte. »Tot?« Tungdil wurde schwindlig, er musste sich an der Lore festhalten. »Wo ist sein Leichnam?« »Ich habe ihn vernichtet. Er liegt irgendwo in der Maschine.«
»Seid Ihr Euch sicher, dass...«
»Ja.« Der Magus eilte zu Rodario, um seine Verletzungen zu behandeln. Auch der Mime wäre zu den Toten gewandert, die Klinge des Unauslöschlichen hatte ihm den Bauch zerschlitzt und die Gedärme austreten lassen. Aber der Stein und die Magie schoben alles wieder an den rechten Platz, und die tödliche Wunde schloss sich, bevor Tungdil sie sehen konnte.
Danach erhielten Sirka und Flagur Linderung ihrer Wunden. Die übrigen fremden Seelen überließ Lot-Ionan dem Gott Ubar. Er wollte die Macht nicht zu freizügig verteilen. Auch sie erreichte gewiss einmal ein Ende. Tungdil durchsuchte den Karren, mit dem der Unauslöschliche zum Ende des Stollens gefahren war, weil er hoffte, die Feuer-Idinge zu finden. Ohne Erfolg. Dieses Mal hatte der Alb anscheinend dafür gesorgt, dass die legendäre Waffe verschollen blieb.
Sein Stiefel traf auf etwas Dünnes, Metallisches. Er bückte sich und holte eines der Schwerter hervor, das dem Unauslöschlichen gehört hatte.
»Eine Trophäe?«, merkte Rodario an, der sich nicht weniger über seine Rettung wunderte.
Bewundernd prüfte Tungdil die Beschaffenheit der Waffe und beschloss, sie mitzunehmen. »Ich werde mir daraus eine Axt schmieden«, sagte er. »Sie wird mir gute Dienste leisten, bis ich die Feuerklinge gefunden habe.« Er ging zu Sirka und schloss sie in die Arme. »Wir haben es geschafft«, raunte er erleichtert. »Der Diamant ist in Sicherheit.«
»Verlassen wir diesen Stollen«, schlug Rodario vor und deutete auf die zerschnittene Kleidung. »Ich weiß zwar immer noch nicht, wie ich das überstehen konnte, aber ich frage nicht weiter danach.« Er nickte dem Magus zu. »Endlich sehe ich, dass Magie auch eine wunderbare Sache zu tun vermag, ehrenwerter Lot-Ionan.« Er stieg in die Lore und legte die Hände auf die Kurbel. »Einsteigen, ihr Helden des Geborgenen Landes. Ich will an die Sonne.«
Tungdil las an den Gesichtern ab, dass keiner so recht fassen konnte, was geschehen war. Es lag daran, dass sie nicht mitbekommen hatten, was sich zwischen dem Unauslöschlichen und dem Magus abgespielt hatte. Die Freude überwog und legte sich wie ein erstickender Mantel über alle Fragen. Auch über seine eigenen. Flagur und Rodario kurbelten, die Fahrt zum Ausgang begann.