Lot-Ionan blickte über die Schulter. Wieder sah er den Schemen eines Mannes, der neben der Maschine stand und grüßend den Arm hob, als wolle er in dem Gang bleiben und auf ihre Rückkehr warten. Rasch wandte er den Kopf nach vorn; bei der Drehung gab es wieder einen Stich im Rücken.
Sie erreichten müde den Punkt, an dem ihre abenteuerliche Fahrt begonnen hatte. Durch den Einstieg über ihnen fiel kein Lichtstrahl, draußen war es Nacht geworden. Im Dunkeln erklommen sie die breite Treppe. »Stellt euch einmal vor: Ohne uns wären Heerscharen von Orks diese Stufen nach oben marschiert«, sagte Rodario auf der Hälfte der Strecke. »Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, was wir erreicht haben. Ha, welch ein Kampf! Dass ich einmal gegen einen Unauslöschlichen antrete, hätte ich niemals gedacht.«
»Warum bist du dann mitgekommen?«, wunderte sich Tungdil.
Rodario zwinkerte ihm zu. »Weil ich dachte, dass man meine Klinge nicht benötigt, sondern mein Wissen. Und mein Mundwerk, was nach wie vor meine beste Waffe ist. Dicht gefolgt von etwas, was nur hübsche Damen zu Gesicht bekommen.«
»Das musste kommen«, meinte Tungdil und lachte. Die Stimmung hob sich, trotz ihrer Erschöpfung. »Ist es nicht herrlich?« Rodario schwelgte im Hochgefühl. »Die schwierigste Aufgabe, den Sieg über die Unauslöschlichen, haben wir überstanden. Jetzt erwartet uns eine lange, aber gefahrlose Reise ins Jenseitige Land.«
Tungdil grinste. »Wie kommst du auf gefahrlos, Unglaublicher?«
»Was soll geschehen, wenn man eine Eskorte von einhunderttausend Kriegern und einem mächtigen Magus sein Eigen nennen darf?« Er blieb im Dunkeln an der Treppenkante hängen und fiel vorwärts. »Verdammte Finsternis! So geht das nicht.« Er kramte in seiner Tasche.
»Was tust du da, Unglaublicher?«, fragte Tungdil.
Stein rieb über Metall, und ein Funkenbündel zuckte, sprang gegen den Docht einer Lampe und entzündete sie. Der warme Schein erhellte Rodarios vornehmen Züge. »Licht, Tungdil. Ich möchte nicht den Alb überstanden haben und von einer Treppe besiegt werden. Mein Genick ist mir heilig.« Er blickte hinter sich. »Was geschieht eigentlich mit dem Stollen?«
Es fauchte, und plötzlich stand die Luft um sie herum in Flammen. Es stank nach verbranntem Hörn. Ein lautes Pfeifen ertönte, und das Feuer schoss hinab in den Stollen. Das kleine Flämmchen hatte einen Vorgang ausgelöst/den Bergleute und Zwerge fürchteten.
»Du bist unglaublich dämlich, Unglaublicher«, zischelte Tungdil und schlug die kleinen Flämmchen auf seinem Schopf aus. Die Verpuffung hatte nicht ausgereicht, die Kleider zu entzünden. Er packte Sirkas Hand und rannte los.
Sie versuchten mit aller Kraft, dem drohenden Inferno zu entkommen. Eben hetzten sie aus der Höhle, da erschütterte ein gewaltiger Schlag den Boden unter ihren Füßen und warf sie auf den weichen Strand der Sandbank.
Schräg vor ihnen explodierte die Seeoberfläche, eine breite Fontäne stieg in den schwarzen Nachthimmel. Als sie in einhundert Schritt ihren Höhepunkt erreichte, schnellte eine Flamme daraus hervor und beleuchtete die Wassersäule von innen. Dampf quoll hervor und ließ Tungdil an eine heiße Springquelle denken, wie sie in den Bergen öfter zu finden waren. Die Kraft der Staubdetonation hatte die Verschalung durchbrochen und dem See einen Einlass verschafft.
Die Wassermassen fielen zurück und schufen hohe Wellen, welche über die Sandbank schwappten und die Zwerge, den Mensch und den Ubari davonschwemmten. Sie hörten es laut gluckern, als das Nass mit Macht in den Stollen strömte und ihn flutete. Mit aller Macht klammerten sie sich an den Felswänden fest, um nicht fortgesogen zu werden und unweigerlich in dem Tunnel zu ersticken.
Schließlich hatte sich der Hohlraum gefüllt, das Gluckern und Prusten des Wassers nahm ein Ende. Die schäumenden Wellen beruhigten sich, die letzten Strudel lösten sich auf, und Ruhe kehrte an die Oberfläche zurück.
Zu ihrer Erleichterung erschien die unversehrte Wogenschwinge und nahm sie an Bord. Unter Vollzeug ging es nach Osten.
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Flutland, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.
»Ich schlage vor, wir treffen uns mit dem Heer der Ubariu in Dreigipfelburg.« Tungdil saß am späten Abend zusammen mit seinen Freunden in der Kapitänskajüte über einer Skizze des Geborgenen Landes, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.
Die Wogenschwinge hatte die Grenze zu Gauragar passiert und befand sich in Flutland, dem Teil des Königreichs, der von den neuen Ausdehnungen des Weyurnschen Sees vor fünf Zyklen überspült worden war. Hatten die Wassermassen damals Tod und Verderben gebracht, war es für die Reisenden heute ein Vorteil. Sie gelangten ohne Unterbrechung nach Osten und näherten sich Meile um Meile dem Braunen Gebirge.
Flagur nickte. »Es wird das Einfachste sein. Es gibt nichts mehr im Geborgenen Land, das nach dem Stein trachtet, also können wir es wagen, ohne Eskorte bis nach Urgon zu reisen.« Er schaute zu Lot-Ionan, der den Diamanten in seiner Linken hielt und abwesend aus dem kleinen, dickglasigen Fenster schaute. »Was meint Ihr dazu, ehrenwerter Magus? Besteht noch Gefahr?«
Lot-Ionan antwortete ihm nicht.
Stattdessen erhob Tungdil die Stimme. »Es gibt noch einen Alb. Er befand sich auf der Insel, welche die Dritten als Stützpunkt nutzen. Aber er hat sich weder den Unauslöschlichen angeschlossen, noch habe ich seitdem von Ereignissen vernommen, die auf sein Wirken hindeuten.«
»Ein guter Hinweis.« Flagur legte die breiten Unterarme auf die Tischplatte, das Holz knirschte leise unter seinem Gewicht.
»Ich fürchte ihn nicht«, sagte der Zwerg nochmals.
»Ich schon, werter Mitheld«, murmelte Rodario. »Der letzte Alb hat mir meinen Bauch aufgeschlitzt, und das war keine erquickliche Erfahrung. Ich denke nicht, dass dieser freundlicher zu mir sein wird. Nicht zu vergessen: Wir haben seine Eltern ermordet. Das wäre ein Grund, unfreundlicher zu sein, als es seine Natur ohnehin von ihm verlangt.«
»Ich bin für eine Begleitwache«, mischte sich Sirka ein. »König Bruron soll uns Soldaten schicken. Je mehr Schwerter wir um uns haben, umso größer ist die Abschreckung.«
»Gut«, willigte Tungdil ein.
Rodario kritzelte es nieder. Er war zum Schreiber auserkoren worden. Die Botschaften würden auf den Weg geschickt werden, sobald die Gruppe Boden unter den Füßen hatte. Er sortierte die Blätter. »Eine Nachricht an Bylanta, die Königin der Vierten, dass wir kommen, eine Nachricht an Ingrimmsch und an das Heer der Ubariu und die Herrscherinnen und Herrscher, dass wir den Stein über die Grenze bringen, und«, er deutete auf das letzte Papier, »die Nachricht an Bruron mit der Bitte um Geleitschutz.« Er tauchte den Federkiel ins Tintenfass und beendete die letzten Sätze.
Lot-Ionan seufzte und erwachte aus seiner Geistesabwesenheit.
»Es bringt nichts, den Umstand länger zu verschweigen«, begann er und legte den Diamanten auf den Tisch. »Flagur, was seht Ihr?«
Rodario hielt inne. Schnell schaute er zu Tungdil und hoffte, dass er sich an die nächtliche Unterredung entsann. »Aber nicht doch! Fasst ihn lieber nicht an«, sagte er dann beiläufig, als der Ubari die Hand danach ausstreckte. »Nur schauen, wie der ehrenwerte Magus bereits anmerkte.«
Flagur betrachtete Rodario verdutzt. »Warum sollte ich ihn nicht anfassen?«
Erst jetzt fiel Tungdil ein, warum sich der Schauspieler so merkwürdig verhielt. »Ihr habt vom Orkfleisch gegessen, Flagur, das mit der Schlechtigkeit des Schwarzen Wassers durchsetzt war«, erklärte er. »Ich verstehe«, sagte der Ubari ohne Groll. »Nun hat er... nun habt Ihr Angst, dass mich die Schlechtigkeit durchdrungen haben könnte und ich aus ganz anderen Gründen nach dem Stein trachte?« Er grinste bösartig. »Ein netter Gedanke.«