Sie alle hörten das helle Klirren, das aus der Höhle zu ihnen durch den Tunnel rollte: Ein eiserner Gegenstand war mit Kraft gegen einen Stein geschlagen worden. »Wir sind wohl doch nicht allein«, wisperte Boindil und stopfte sein Essen zurück in den Rucksack. »Gehen wir nachsehen«, stimmte Tungdil zu und befahl den Aufbruch.
Während sie so leise es ging durch den Tunnel zurück zur Höhle schlichen, vernahmen sie das Geräusch wieder. Und sie kamen ihm näher.
Tungdil, Boindil und Manon schauten vorsichtig aus dem Gang in die Höhle. Auf den ersten Blick gab es nichts zu sehen. Leer und verlassen lag sie vor ihnen. Staub flirrte in der Luft, und am Boden, ziemlich in der Mitte, befand sich eine Ansammlung Schutt, die vorher nicht da gewesen war.
»Ein Spuk?«, raunte Ingrimmsch Tungdil zu.
»Wir sind zwar im Jenseitigen Land, doch so weit würde ich in meinen Vermutungen nicht gehen«, sagte er besonnen. »Wer immer es ist, er hat sich...«
»Da oben!«, rief Manon und machte sie auf eine zwergengroße Gestalt aufmerksam, die unter der Kavernendecke schwebte.
»Wer kann das sein?«, fragte Tungdil ihn.
Ingrimmsch hob den Kopf. »Was, bei allen Göttern, macht er da oben?«
Der Zwerg hatte sich allem Anschein nach mit einem oben im Felsgestein befestigten Flaschenzug an einer Kette nach oben gezogen. Nun hockte er in einer biegsamen Schaukel aus Leder und hantierte mit einem dicken, armlangen Eisenstab.
Manon schüttelte den Kopf. »Zu uns gehört er nicht. Ich weiß nichts von einer solchen Mission, und mir ist schleierhaft, was er da oben bezwecken möchte. Oder wie er überhaupt hinauf gekommen ist.« Der Fremde setzte den Stab an, zog den Hammer aus dem Gürtel und schlug mit Wucht auf das Ende, um die Spitze in den Fels zu treiben. Große Splitter platzten ab und fielen klackernd zu Boden, Granitstaub rieselte hinterher. Jetzt wussten sie, woher der Schutt kam.
Boindil fluchte. »Seht euch die Decke an«, rief er alarmiert. »Sie ist voller Risse!«
»Wie kann ein Stab das anrichten?«, lachte Manon ungläubig.
»Scheingranit«, erklärte Ingrimmsch. »Ich bin ein Zweiter, und auch wenn ich niemals sonderlich gut im Bearbeiten von Gestein war, kenne ich seine Eigenheiten besser als ein Dritter.« Er zeigte auf die Stelle am Boden, wo sich die Brocken sammelten. »Seht ihr, wie er zerplatzt und staubt, wenn er aufschlägt? Er sieht aus wie Granit, ist aber längst nicht so hart. Je älter er wird, umso poröser wird er.«
»Der Kerl bringt gerade die Höhle absichtlich zum Einsturz!« Tungdil wandte sich um. »Raus hier, sonst gibt es kein Zurück mehr für uns!« Hastig folgten ihm die anderen.
Der Zwerg, der immer noch in luftiger Höhe arbeitete, hatte den ungebetenen Besuch bemerkt und verdoppelte seine Anstrengungen. Ein letzter harter Schlag, und ein hausgroßer Brocken brach heraus. Er zerschellte auf dem Boden und schleuderte eine graue Staubwolke bis zur Höhlendecke.
Sofort glitt der unbekannte Zwerg an der Kette herab und verschwand in dem trockenen Gesteinsnebel. Als dunkler Schemen rannte er vor Tungdil und seinen hustenden Männern her, um ebenfalls in den rettenden Stollen zu gelangen.
Über ihnen begann ein gewaltiges Vernichtungswerk. Am ehesten ließ es sich mit einem Gewölbe vergleichen, aus dem ein Wahnsinniger den alles entscheidenden Schlussstein entfernt hatte. Es gab nichts mehr, was das drückende Gewicht der Decke abgefangen und auf die Außenwände weitergeleitet hätte.
Weitere Brocken stürzten herab; zwei Krieger wurden unter ihnen begraben und von den schweren Steinplatten wie weiche Kashti-Pilze zerquetscht. Die Helme rollten zwischen die Stiefel der übrigen, ein Soldat stürzte darüber; ein Kamerad zog ihn gerade noch rechzeitig auf die Beine. Selbst das größte Ungeheuer hätte diesen Geschossen nicht standgehalten; vermutlich wäre sogar ein ausgewachsener Drache unter dem Gewicht in die Knie gegangen.
Das feine Granitmehl setzte sich in die Lungen und die Nasen der Zwerge und machte es ihnen unmöglich, einen kräftigen Atemzug zu tun. Der Fels bebte unter ihren Füßen, es krachte und donnerte. Der Berg schrie seine Trauer über die Zerstörung auf seine Weise laut hinaus.
»Dieser Bastard!«, rief Manon hustend und spurtete an Tungdil und Boindil vorbei, um den Zwerg einzuholen, der den Untergang der Höhle ausgelöst hatte. »Ich werde ihn erschlagen!«
Tungdil zweifelte nicht am Ernst der Worte. Der Dritte hatte zwei seiner Leute verloren, und das ohne jeglichen Anlass.
»Manon, nein!«, wollte er ihm nachrufen, aber es kam nur ein Krächzen aus seiner verstaubten Kehle. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als hinterher zu rennen und den Mord zu verhindern.
In dem Stollen, in den sie rannten, gab es keine Dreckwolken, und so hatten sie beste Sicht. Sie hasteten hintereinander durch den Tunnel wie an einer Perlenschnur aufgereiht, vorneweg der Zwerg, dann Manon und am Ende Tungdil, der immer mehr zurückfiel. Sein Körper war die Anstrengung nicht mehr gewohnt. »Halt«, ächzte er und spuckte einen grauen Klumpen Speichel, der einen hervorragenden Mörtel abgegeben hätte, auf den Boden. »Manon, warte! Er kann dich leicht in eine Falle locken.« Er trabte hinterher, Boindil und der Rest der Gruppe schloss zu ihnen auf. »So ein Heißblut!«
Als sie die Höhle erreichten, in der sie die Orkknochen gefunden hatten, sahen sie, wie Manon durch einen Ausgang zu ihrer Linken hetzte. Niemandem war das Loch vorher aufgefallen.
Die Jagd ging weiter.
Tungdils Seitenstechen wurde unerträglich. Er keuchte und pfiff wie ein löchriger Sudkessel; selbst der ältere Ingrimmsch, der den Schlachten und damit den Anstrengungen entsagt hatte, besaß mehr Ausdauer als er. »Lauft weiter«, hechelte Tungdil und verfiel ins Gehen. »Ich komme nach. Ich halte euch nur auf.« »Nicht nötig, Gelehrter«, sagte Boindil und zeigte auf eine Kreuzung.
Dort lag Manon; die gezogene Waffe hielt er in der Linken, und eine üble Platzwunde prangte unterhalb des Auges. Ingrimmsch und Tungdil knieten neben ihm nieder, während die Krieger sicherten. Von dem Zwerg, den sie verfolgt hatten, fehlte jede Spur.
Tungdil überprüfte die Schlagader am Hals. »Er ist nicht tot«, sagte er erleichtert und stieß die angehaltene Luft aus.
Boindil hielt eine augengroße Steinkugel in die Höhe, an der das Blut des Dritten klebte. »Jemand hat ihn mit einer Schleuder niedergestreckt«, stellte er fest.
»Verschwindet!«, hallte eine Stimme aus dem Gang. »Es gibt hier nichts, was es sich für euch zu entdecken lohnt.« Sie erkannten eine zwergengroße Gestalt, die nichts am Leib trug als einen Lendenschurz und ein Kettenhemd darüber; in der Rechten hielt sie einen schweren Hammer. Der Qualm ihrer Fackel machte das Gesicht unkenntlich.
Tungdil erhob sich und stellte sich an die Spitze der Truppe, während sich zwei Krieger um Manon kümmerten. »Wer bist du? Und warum hast du die Höhle...«
Hinter der Gestalt erhob sich ein großer, eckiger Schatten, der den gesamten Gang ausfüllte. Zahnräder klickten und surrten laut, mechanische Teile rieben aneinander. Quietschend näherte sich das Ding. »Verschwindet endlich!«, rief ihnen die Gestalt zu, ließ die Fackel fallen und schleuderte den Hammer mit beiden Händen nach ihnen.
Einer der Krieger wehrte das schwere Geschoss mit seinem Schild ab; es prallte ab und krachte gegen die niedrige Decke.
Die Geschehnisse aus der Höhle wiederholten sich. Große Fragmente des Scheingranits polterten auf den Felsboden, und der Gang brach auf mehreren Schritten Länge ein.
»Zurück! Es ist zu gefährlich, etwas zu unternehmen.« Tungdil ballte enttäuscht die Faust. Dieses Mal würden sie das Geheimnis des Jenseitigen Landes nicht enthüllen können.
Boindil und die drei Krieger schnappten sich den bewusstlosen Manon und rannten um ihr Leben. Nicht alle entkamen dem tödlichen steinernen Regen. Zwei Krieger wurden unter dem Scheingranit begraben, der Rest gelangte hustend und keuchend mit knapper Not in die Knochenhöhle. Der Stollen fiel hinter ihnen in sich zusammen und spie eine gewaltige Staubfontäne aus, welche die Zwerge überschüttete.