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Über allem thronte überlebensgroß das Bild eines Wesens, das er sehr gut kannte: breite Kiefer mit vorstehenden Reihen nadelspitzer Reißzähne, ein menschenähnliches, viel zu großes, knöchernes Haupt, über dem sich eine dünne, ungesund bleich aussehende Haut spannte. Die Adern waren mit hellgelber Farbe aufgemalt worden, anstelle der Nase saßen zwei dreieckige Löcher.

Djerün! »Bei... den Göttern«, stammelte Tungdil leise.

Lot-Ionan nahm den Diamanten aus der Gürteltasche, und auch er konnte die Augen kaum von dem eindrucksvollen Bildnis abwenden. »Was für eine Kreatur hatte Andökai an ihrer Seite?«

»Wir sind da«, sagte Flagur und atmete tief ein. »Seid ihr bereit, dem Herrscher Leteforas gegenüberzutreten?« Sein Zeigefinger richtete sich auf das Bild über dem Eingang. »Für eure Augen wird er aussehen wie ein Monstrum, aber vergesst nicht, dass er das Abbild unseres Gottes Ubar ist. Erweist ihm Respekt.« Er nickte der Untergründigen zu, und sie gab wiederum den Acronta ein Zeichen.

Sie erwachten aus ihrer Starre, packten die eisernen Griffe, die in zwei Schritt Höhe über dem Boden eingelassen waren, und öffneten ihnen die Flügel.

Licht durchströmte den hohen Raum dahinter; unzählige Fenster, so hoch und breit wie je einer der gerüsteten Wärter, ließen die Helligkeit herein und erlaubten es dem Herrscher, das östliche Letefora im Schein der aufgehenden Sonne zu betrachten.

Die Wände waren mit künstlerischen Motiven bemalt worden, eingearbeitete Blätter aus Gold, Silber und andere Edelmetalle verliehen den Zeichnungen einen entrückenden Glanz.

Auf dem lehnenlosen Thron saß der mächtigste Acront, den sie bislang zu Gesicht bekommen hatten. Nun wussten sie auch, weswegen die Gänge so hoch waren; bei seiner Größe von vier Schritten war es dringend notwendig.

Er trug weder Helm noch Rüstung, sondern war in ein fließendes Gewand aus weißem Stoff mit goldenen und schwarzen Stickereien gekleidet. Er glich der Zeichnung über dem Eingangsportal mit erschreckender Genauigkeit. Nach den Maßstäben des Geborgenen Landes war er alles andere als eine Schönheit. Die großen violetten Augen musterten die Besucher. Mit einem leisen Knallen entfalteten sich die riesigen Schwingen auf seinem Rücken und verdunkelten das Licht. Mit diesem unheimlichen Geräusch hatte Djerün die Orks und alle anderen Kreaturen Tions in Todesfurcht versetzt.

Die Untergründige in dem Seidenkleid stellte sich an die Seite des Acronten und sprach zu Flagur. »Er sagt, er heißt uns in Letefora willkommen und ist sehr froh, dass unsere Mission einen glücklichen Ausgang genommen hat«, übersetzte Sirka für Tungdil und seine Freunde.

»Oh, sie versteht ihn?« Ingrimmsch rieb sich über den schwarzen Bart. »Ich dachte, es sei unmöglich.« »Sie ist seine Gemahlin. Sie sollte ihn verstehen«, erwiderte Sirka leichthin. »In jeder Generation wird eine von uns geboren, die einen Acront verstehen kann, und sie ist dazu auserkoren, seine Gemahlin zu sein und gemeinsam mit ihm zu herrschen.«

Rodario beugte sich zu dem Krieger. »Wie fühlt man sich, wenn man die mächtigste Frau der Stadt beleidigt hat, Meister Zunder?«

»Ich habe sie nicht beleidigt, Schwätzer«, beharrte Ingrimmsch leise und regte sich auf. Schnell legte Goda eine Hand auf seinen Unterarm. Es war der falsche Augenblick für einen Streit.

Der Acront sprach wieder, seine Gemahlin gab seine Worte weiter, Sirka machte sie für die Gäste verständlich. »Demnach war die Meldung über die Vernichtung des Heeres falsch?«

»Wer hat die Meldung gebracht, gottgegebener Acront?«, wunderte sich Flagur.

»Eine Fremde, eine Zauberkundige kam vor einiger Zeit nach Letefora und berichtete uns, wie schlecht die Dinge im Geborgenen Land verlaufen seien. Ihr sei es gelungen, mit letzter Kraft nach Letefora zu gelangen. Mit dem Diamanten.«

»Sie wies ihn Euch, gottgegebener Acront?«

»Ja. Sie wies ihn mir, und ich gab ihr eine Eskorte, die sie zur Schwarzen Schlucht geleitete.« »Das kann nicht sein«, sprach Lot-Ionan aufgebracht, öffnete die Hand und zeigte dem Wesen den Diamanten. »Ihr seid einer Fälschung erlegen. Wir haben den wahren Stein!«

Rodario schluckte. »Ich habe keinen Schimmer, was sich gerade ereignet, aber es führt zu nichts Gutem.« Tungdil trat vor. »Nannte sie ihren Namen, gottgegebener Acront?«

Die großen, unheimlichen Augen richteten sich auf den Zwerg, dann sprach die Kreatur wieder. Ihre Stimme ging Tungdil durch Mark und Bein; seine Gemahlin übersetzte die Antwort und gleich darauf auch Sirka. »Ja. Sie nannte sich Narmora. Narmora die Vergessene.«

Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Hauptstadt Porista, 6241. Sonnenzyklus, Winter.

Wieder kam es zu einer Zusammenkunft aller Herrscher des Geborgenen Landes. König Bruron lud seine Gäste in den ersten fertiggestellten Saal des zukünftigen Palastes. Große Öfen sorgten dafür, dass es trotz des tobenden Schneesturmes im Inneren der Mauern angenehm warm war.

Bruron hatte den Saal vollständig herrichten lassen, von den Möbeln über Fresken und Wandteppiche bis zu Steinstatuen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass um diesen Raum herum der übrige Palast bereits stand. Mehr als die Grundrisse gab es in Wirklichkeit jedoch nicht.

Die Königinnen und Könige der Menschenreiche, der Zwergenreiche, der Freien und Esdalän lauschten den Ausführungen Rodarios, der die Geschehnisse an der Schwarzen Schlucht farbenreich, wortgewaltig und mitreißend schilderte.

»... und damit - mit dem Opfer von Tungdil Goldhand - endete die Schlacht. Wir haben einen großen Helden verloren, der sein Leben für das Geborgene Land gab.« Er verneigte sich vor den Anwesenden. »Für Euer aller Wohl und Euren ruhigen Schlaf. Gedenkt dem tapferen Zwerg auf ewig und überlasst die Trauer um ihn nicht allein den Kindern des Schmieds.« Mit diesen Worten nahm er Platz und erntete tosenden Beifall. Vor allem die Zwerge, in deren Augen die ein oder andere verstohlene Träne glänzte, spendeten frenetischen Applaus. Lot-Ionan erhob sich. Er trug ein hellblaues Gewand und weiße Handschuhe, um die Verbrennung zu verbergen, die ihm das Artefakt zugefügt hatte. Die Haut war verheilt, aber schwarz geblieben. Die Linke hielt einen langen, kunstvoll gedrechselten Gehstab aus Birkenholz. »Ich sehe es als unsere Aufgabe an, die Zeit des neuen Friedens zu nutzen, den uns der Einsatz meines Ziehsohnes Tungdil und seiner Freunde, die zum Teil noch immer im Jenseiten Land ausharren, gewährt. Es ist an der Zeit für eine Versöhnung.« Er schaute zu Esdalän. »Den Elben wurde Schreckliches angetan. Seid Ihr bereit, die Taten zu vergeben, die in unermesslichem Zorn auf die Atär wider Euch begangen wurden?«

Esdalän schaute gleichmütig zu Ginsgar hinüber. »Ich verlange eine Entschuldigung für die Grausamkeiten und die grundlosen Verwüstungen Älandurs. Dass die Paläste und Tempel der Atär gebrandschatzt und eingerissen wurden, war gut. Aber dass Siedlungen in Flammen aufgingen, deren Bewohner nichts mit den Verblendeten meines Volkes zu tun hatten, bedarf der Worte der Vergebung und einer Entschädigung.« Seine Augen wanderten über die Gesichter der Zwerginnen und Zwerge. »Wir werden unser Reich mit Eurer Hilfe neu errichten. Wenn das geschafft ist, werden wir den Kindern des Schmieds vergeben.«

Ginsgar öffnete den Mund zu einem dröhnenden Lachen. »Sicher, Esdalän. Für siebenunddreißig Elben ein paar Häuser zu bauen, das geht schnell. Die Vergebung wird rasch hergestellt sein.«

Wenn ihn die Worte und der Tonfall getroffen hatten, zeigte es Esdalän nicht. Er war zu besonnen, als dass er sich zu einer harschen Erwiderung hätte hinreißen lassen. »Und was ist mit den Worten der Entschuldigung, Ginsgar Ungewalt, von dir? Du hast die Truppen durch die Haine geführt, gemordet und geplündert.« Das Lachen endete abrupt. »Und wann höre ich eine Entschuldigung von dir für die vergifteten Zwerge?« »Das waren die Atär, nicht die Elben.« Esdalän sah an ihm vorbei zu Xamtys. »Die Atär und die Elben haben nichts gemeinsam.«