»Spitzfindigkeiten«, sagte Ginsgar verächtlich. »Solange ich die Entschuldigung nicht vernehme, wirst auch du warten müssen.«
»Dann lege ich auch keinen Wert darauf, dass die Zwerge uns in Älandur helfen.« Esdalän nickte dem selbst ernannten Großkönig zu. »Sobald du eine Entschuldigung aussprechen wirst, können unsere Völker einen Neuanfang begehen. Vorher nicht.« Der Elb lehnte sich zurück und machte deutlich, dass er nichts mehr dazu sagen würde. Er hatte die Tür der Versöhnung aber nicht gänzlich geschlossen.
Lot-Ionan bedachte Ginsgar Ungewalt mit einem vorwurfsvollen Blick. »Wie kannst du nur, Ginsgar Ungewalt?«
»Ich kann es einfach«, entgegnete er kalt. Auch er würde dazu nichts mehr sagen. Die Kluft zwischen den beiden Völkern blieb bestehen, das Blut und die Toten, die sich darin gesammelt hatten, verhinderten einen Frieden. »Du wirst wieder zur Besinnung kommen«, sagte ihm Lot-Ionan voraus und wandte sich wieder an alle. »Wir haben vernommen, dass der Kordrion entkommen ist und in das Gebirge flüchtete. Es steht zu befürchten, dass er sich irgendwo zwischen dem Reich der Fünften und Vierten eine Bleibe gesucht hat, wo er seine Wunden pflegt. Es ist unerlässlich, dass die Zwerge nicht nur die Pässe genaustens bewachen, sondern ihr Augenmerk auch auf die Regionen der Gebirge ausweiten, in denen es keine Wege gibt. Sobald einer von euch den Kordrion entdeckt, muss es mir unverzüglich gemeldet werden.«
»Hatte Meister Rodario nicht behauptet, die Kreatur sei unbesiegbar?«, meldete sich Isika zu Wort. »Für die Ubariu und die Untergründigen, ja.« Lot-Ionan deutete auf seinen Stab. »Ich bin dabei, neue Famuli und Famulae zu finden. Einige habe ich auf dem Weg durch Urgon und Gauragar geprüft. Es gibt Anwärter. Schon bald verfügen wir über junge Menschen, welche die Hohe Kunst der Magie beherrschen. Denn der Kordrion wurde niemals mit Magie bekämpft. Die Runenmeister der Ubariu nutzen ihre Macht anders, als ich oder meine Famuli es tun.« Er lächelte beruhigend. »Ihr seht, Königin Isika, ich bin zuversichtlich.«
Königin Wey hob ihre Stimme. »Dann lasst mich Euch etwas zutragen, ehrenwerter Magus, was Euch noch zuversichtlicher machen wird, auch wenn meine Untertanen und ich es mit Sorge beobachten.« Sie deutete auf die Karte des Geborgenen Landes, genau auf ihr Reich. »Der Seespiegel senkt sich. Und zwar unaufhörlich. Es ist, als ließe man das Wasser aus einem Bottich ab.«
Rodario und Lot-Ionan wechselten rasche Blicke.
»Wie viel habt Ihr schon verloren?«, wollte der Schausteller wissen, der sich erklären konnte, was geschehen war. Das einströmende Wasser hatte Furgas' Arbeit, den Durchbruch des unfertigen Stollens, mit seinem Gewicht und dem enormen Druck beendet. Irgendwo im Westen des Jenseitigen Landes ergoss sich ein gewaltiger Strom und würde neue Vernichtung mit sich bringen.
»Die Bewohner meines Reiches, die auf festen Inseln leben, berichteten mir, dass das Wasser um mehr als zehn Schritte gefallen sei. Ganze Hafenanlagen müssen umgebaut werden, bei anderen hat sich der See so weit zurückgezogen, dass die Leute einen Umlauf lang gehen müssen, bevor sie überhaupt Wasser erreichen.« Königin Wey blickte ernst in die Runde. »Der See läuft leer. Einige werden plötzlich nicht mehr auf Inseln, sondern auf Bergen sitzen, die mehr als eintausend Schritte hoch in den Himmel ragen. Das wird Euch, ehrenwerter Lot-Ionan, freuen, weil Ihr einfacher an die magische Quelle gelangt, aber meine Untertanen sehen es mit Angst. Aus Fischern werden keine Bauern.«
»Ich kann mir vorstellen, was den Schwund verursacht«, sagte der Magus und erklärte seine Theorie, die sich mit Rodarios Gedankengängen deckte. »Wir können die Ursache leicht beheben, indem wir den Stollen zum Einsturz bringen. Lieber unternehme ich eine Tauchfahrt, als dass ein Königinnenreich auf dem Trocken sitzt. Weyurn ist ohne Wasser nicht denkbar. Auch das Geborgene Land müsste leiden, denn der See speist viele Flüsse und Ströme. Die Folgen wären schrecklich.«
Mallen erbat sich das Wort. »Ich möchte im Namen der Menschen vorschlagen, dass die Zwerge erlauben, an den Durchgängen zum Geborgenen Land Krieger aus den jeweiligen Ländern an ihrer Seite zu dulden«, schlug er vor und erhob sich. »Es ist mehr als rechtens, wenn wir Menschen den Zwergen nicht länger die gesamte Verantwortung für das Geborgene Land überlassen. Auch wir sollten einen Beitrag zur Sicherung unserer Heimat leisten. Es ist unsere Art der Anerkennung für Tausende von Zyklen und Tausende von Toten, die Euer Volk erbracht hat.«
»Nein«, sagte Ginsgar sofort. »Wir wollen keine Menschen in den Gebirgen. Wir verrichten unsere Aufgabe gut. Menschen würden uns nur stören. Sie verstehen weder unsere Art zu leben noch unsere Weise zu denken und zu handeln. Im Falle eines Angriffs stünden die Soldaten nur im Weg, anstatt zu nutzen.«
»Du hast kein Königreich, das dir untersteht«, wies ihn Xamtys zurecht. »Du bist ein selbst ernannter Großkönig, mehr nicht.« Sie neigte sich Mallen zu. »Was das Reich der Ersten angeht, so sind mir Menschen sehr willkommen. Wir haben in letzter Zeit zu viele Verluste erduldet und wären froh, wenn wir die Soldaten bekämen, die unsere Lücken schließen, bis unsere eigenen Krieger soweit mit ihrer Ausbildung sind und Erfahrung sammeln durften.« Bylanta und Balendilin stimmten ihr zu, Gla'imbar und Malbalor dagegen verweigerten eine Zusammenarbeit. Die Blicke, die Ginsgar und Xamyts tauschten, verhießen eine Machtprobe um die Herrschaft über alle Zwergenreiche. Niemals war die Zerstrittenheit so offen gezeigt worden, immer war nach außen hin Gemeinschaft vermittelt oder wenigstens Stillschweigen über strittige Angelegenheiten gewahrt worden. Mallen bedankte sich. »Dann sollten wir morgen darüber sprechen, wie viele Soldaten die Stämme der Ersten, Zweiten und Vierten aufnehmen möchten.« Er setzte sich.
Die Runde besprach als Nächstes die Vorgehensweise gegenüber den Ubariu und dem gewaltigen Reich im Nordosten des Jenseitigen Landes. Gegen den Willen von Ginsgar - was niemanden mehr erstaunte - einigte man sich darauf, lose Kontakte zu knüpfen, schon allein wegen des Kordrion. Ansonsten wollten die Herrscherinnen und Herrscher es den Göttern überlassen, wie sich das Verhältnis entwickelte.
Da es schon spät geworden war, unterbrach Bruron die Versammlung. Am frühen Morgen wollten sich die Mächtigen noch einmal einfinden. Die Königinnen und Könige der Menschenreiche verließen die Halle, während die Zwerge sitzen blieben. Sie wollten weiterverhandeln.
Kaum waren sie allein, schlug Xamtys auf den Tisch und funkelte Ginsgar an. »Wie kannst du es wagen, als Großkönig aufzutreten?«, herrschte sie ihn an.
»Diese Angelegenheit ist geregelt«, wiegelte er mit einem Lächeln und einer Handbewegung ab. »Du glaubst, sie ist geregelt«, verbesserte sie ihn. »Die Stammesherrscher und ich haben dich nicht anerkannt. Du herrschst über eine Hand voll Getreuer, Ginsgar, die dir im Rausch des Sieges Gefolgschaft geschworen haben. Mehr nicht.«
»Ich sehe das anders.« Gla'imbar deutete auf Ginsgar. »Er hat das getan, was wir alle hätten tun sollen. Elben oder Atär, was macht das für einen Unterschied? Wenn die nächste Eoil erscheint, werden diese siebenunddreißig Spitzohren auch verrückt spielen und wieder versuchen, ihr eigenes Reich der Reinheit zu gründen. Ohne die Elben sind wir besser dran.« Er schob seinen Stuhl zurück, kniete vor Gingsar nieder und reckte ihm die Waffe entgegen; dann neigte er sein Haupt. »Ich erkenne dich als meinen Großkönig an, Ginsgar Ungewalt.«
Malbalor stand ebenfalls von seinem Platz auf, ließ sich auf die Knie herab und wiederholte die Zeremonie. Xamtys sprang auf. »So viel Unvernunft, die aus meinem Reich kommt, ist nicht mehr zu ertragen!« Sie schaute auf Glaimbar. »Warum du dich ihm anschließt, weiß ich nicht.« Dann richtete sie ihren Blick auf Malbalor. »Du hast Angst um deine Macht, denn du bist ein Dritter. Du denkst, du wirst sie behalten und deine Leute werden in Ruhe gelassen, wenn du dich dem Zwerg anschließt, der die Dritten und die Freien zu seinen Feinden erklärt hat.« Ihre Augen verengten sich. »Ihr täuscht euch beide. Ihr habt die Stämme mit eurem Entschluss gespalten. Ich werde Ginsgar niemals als Großkönig annehmen.« Sie stand auf und kniete vor Bylanta nieder. Balendilin gesellte sich an ihre Seite. »Wir schwören dir Treue, Großkönigin Bylanta Schmalfinger aus dem Clan der Silberbärte«, sagten sie gemeinsam.