Und dabei blieb es nicht.
Das Gebirge schüttelte sich wütend, als ärgere es sich über das, was man ihm antat und wolle alle bestrafen, die sich in seinem Innern aufhielten. Über ihren Köpfen knisterte und knackte es, Splitter fielen herab. »Was haben wir getan, um Vraccas' Ärger zu erregen? Diese Kammer wird es nicht mehr lange geben«, schätzte Ingrimmsch und schaute ziemlich besorgt zum keuchenden Tungdil. »Kannst du noch?«
»Ich muss wohl«, gab er ächzend zurück, stützte sich auf die Knie und rang nach Luft. »Ich hatte nicht vor, auf diese Weise zu enden.« Er dachte an die seltsamen Umrisse, die er hinter der Gestalt gesehen hatte. »Was war das für ein Ding, das er bei sich hatte?«
»Ich weiß es nicht. Wer immer er war, er hätte es auf uns gehetzt, wenn der Gang nicht eingebrochen wäre.« Boindil schüttelte den Bart aus, der sich von dem vielen Staub grau gefärbt hatte. »Du bist der Gelehrte, Tungdil. Hast du schon einmal etwas Ähnliches gesehen?«
Im gegenüberliegenden Teil der Höhle barsten große Abschnitte der Wand, die Steinsplitter flogen hunderte Schritte weit wie Geschosse umher und trafen einen der Krieger an der Wange. Blut schoss aus der Wunde. Tungdil antwortete nicht, sondern gab das Zeichen zum Aufbruch. Für ihn lagen die Dinge nicht ganz so klar auf der Hand.
Sie eilten durch den Gang zurück in den Nebel, während der Fels unter ihren Füßen bebte und sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Tungdil war überzeugt, dass das Gestein es sehr übel nahm, wie man in seinen Innereien gewühlt und die Höhlen zerstört hatte.
Aber sie entgingen dem Zorn des Gebirges, erreichten schließlich den nächtlichen Nordpass und machten sich bei scharfem Frost auf den Heimweg. Der Nebel bildete Reif auf den Helmen, Kettenhemden, Schilden und Barten und tünchte die Zwerge weiß.
Als sie endlich die Pforte erreichten, erwartete man sie bereits.
II
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
»Platz! Platz für den Kaiser der Schauspieler!«, schrie der bunt gekleidete Ausrufer und schlug einhändig auf die Trommel, die vor seinem Bauch hing. Dann setzte er die Fanfare an seine Lippen und schmetterte eine Melodie, die entfernt an die Königshymne von Gauragar erinnerte. Lärmend schritt er durch die Menge, die neugierig Platz machte und sich davon überzeugen wollte, wie ein solch hochwohlgeborner Mann aussah. Hinter dem Ausrufer stolzierter ein Mann in teuer anmutenden Gewändern, einem sehr auffälligen blauen Hut mit drei Federn und einem silberbeschlagenen Gehstock. Das Kinnbärtchen passte hervorragend zu den aristokratischen Zügen, und die langen dunkelbraunen Haare fielen bis auf den Kragen des Mantels. Majestätisch winkte er nach allen Seiten; zur Betonung der Geste hatte er ein kleines weißes Tuch am Ring seines Mittelfingers befestigt. Es flatterte und wehte wie eine Miniaturstandarte.
»Die Götter mögen euch alle herzen und küssen, ihr allerliebsten Bewohner von Sturmtal!«, rief er nach rechts und links und lächelte einer jungen Frau verwegen zu. »Und ganz besonders dich, schönes Kind. Wenn sie nicht wollen, rufe mich, und ich übernehme ihre Aufgabe nur zu gern.« Das Gesicht des Mädchens färbte sich rot, und es erklangen einige Lacher von Umstehenden.
In der Mitte des Marktplatzes angekommen, sprang er auf den Rand des runden Brunnens. »Kommt, verehrte Spectatores! Kommt und verfolgt in meinem fahrenden Curiosum die wunderlichsten Abenteuer, die das Geborgene Land jemals gesehen hat, als wäret ihr just dabei«, lockte er die Menge. Dabei lief er rund um die Einfassung des Brunnens, sodass die polierten Schnallen an seinen Schuhen klimperten. »Der Kampf gegen die Orks, gegen die Eoil und die Avatare, die Grauenhaftigkeit der Unauslöschlichen, die über Dsön Balsur herrschten, all das werdet ihr mit eigenen Augen sehen. Helden, Schurken, Tod und Liebe. Ich, der Unglaubliche Rodario, den man zu manchen Zeiten Rodario den Unglaublichen und Liebhaber der seligen Maga Andökai nannte, berichte von den größten Wagnissen. Ich weiß euch zu sagen, weshalb man Andökai noch aus einem anderen Grunde ›die Stürmische‹ nannte.« Ein paar Männer lachten über die Anzüglichkeit. »Und ich habe Seite an Seite mit Tungdil Goldhand gegen die Eoil gefochten«, er fuchtelte mit seinem Gehstock, »bis die Nebelgestalt tot vor uns lag!« Er reckte sich und breitete die Arme aus. »Denn ich, verehrte Spectatores, habe die Geschehnisse selbst erlebt! Kann es einen wahrhaftigeren, ehrlicheren Erzähler geben als mich?« Aus seinen Händen schössen grüne und blaue Flammen, und die Menschen stießen erschrockene Rufe aus. »Das war nur ein Vorgeschmack!«, versprach er, bückte sich und schaute einen Jungen an. »Du wirst deine Hände vor die Augen halten müssen, kleiner Mann, damit sie dir während der Vorstellung nicht aus dem Schädel fallen«, raunte er beschwörend.
Der Junge wurde bleich und drückte sich an seine Mutter, die ihm lachend durch das Haar fuhr. Rodario feuerte eine weitere Ladung Flammen in den sich verdüsternden Himmel, der ihm und den Bewohnern ein Frühlingsunwetter versprach. Für die Stimmung im Zelt wären ein wenig Blitz und Donner sicherlich gut. »Gebt Acht: Die ersten zwanzig Spectatores erhalten einen Becher Wein kostenlos und ein Gläschen mit einem Hauch des Nebels der Eoil darin! Schaut ihn euch gut an und schaudert! Doch wagt es nicht, den Korken zu entfernen, denn sonst...« Er ließ die Drohung unausgesprochen und beschränkte sich auf eine warnende, geheimnistuerische Miene.
Seine braunen Augen schweiften über die Menge, die gebannt an seinen Lippen hing. Er hatte es wie immer geschafft, sie mit seinen Worten, seinem Charme und seinen Offerten in den Bann zu schlagen. Wie an jedem Ort suchte er ein vertrautes Gesicht in der Masse; und wie immer seit fünf Zyklen konnte er es nicht entdecken. Schließlich fiel ihm eine bildhübsche Frau auf, die in der zweiten Reihe stand und ihn anschaute. Das wiederum sorgte bei ihm für Hochstimmung und rang die aufkeimende Enttäuschung nieder.
Sie mochte Anfang zwanzig sein, war hoch gewachsen und von anziehendem Äußeren. Alles an ihr stimmte und saß dort, wo es sich für ein Weib gehörte, auch wenn es für ihn etwas mehr Oberweite im DekoUetee hätte sein können. Sie trug die langen blonden Haare offen, das Gesicht war schmal und ausdrucksstark, die grünen Augen schauten aufmerksam. Er hätte sie als Edeldame eingeschätzt - wenn da nicht der Wäschekorb in ihren Händen und die abgetragenen Kleider an ihrem Leib gewesen wären.
Eine seltsame Sehnsucht stand in ihrem Antlitz; weniger schien sie ihn als Mann zu begehren, sondern viel mehr nach dem zu trachten, was er tat. Rodario wusste, was diese Sehnsucht bedeutete. Er hatte mit dem gleichen Gesichtsausdruck vor vielen Zyklen vor dem Eingang eines Theaters gestanden und sich nichts Sehnlicheres gewünscht, als auf der Bühne zu stehen. So war es gekommen.
Er nahm es als Wink der Götter. Seinem Gefühl folgend, sprang er vom Brunnenrand und landete genau vor ihr. Dann verbeugte er sich tief und zauberte dank seiner enormen Fingerfertigkeit und sorgfältiger Vorbereitung eine schwarzgrüne Papierblume wie aus dem Nichts in seine Hand.
»Zeigt diese heute Abend am Einlass, und Ihr werdet nichts zahlen müssen«, sagte er lächelnd, hob eine Augenbraue und warf ihr den berüchtigten Verführerblick zu, dem noch keine widerstanden hatte. »Verratet mir Euren Namen, Schönheit von Sturmtal.«
Sie nahm die Blume zögernd entgegen. Doch da schob sich ein junger Mann vor sie, riss ihr die Gabe aus der Hand und warf sie auf die Erde. »Behalte deine Schmeicheleien für dich, Aufschneider«, warnte er Rodario unmissverständlich, und mit dem Schuh zertrat er das Papier.