Sie schluckte. »Ich komme«, lenkte sie ein und wandte sich um.
Über der Senke flatterten die Ubariu-Banner. Die Verstärkung war eingetroffen und hatte ein vorübergehendes Lager errichtet, um die Verletzten zu versorgen und den Bestien zu folgen, denen die Flucht gelungen war. »Sie haben gesagt, dass der Kordrion in die Berge geflüchtet sei«, sagte er zu ihr unterwegs, um das Schweigen zu brechen und sie von dem Schmerz abzulenken. Und von seinem eigenen.
»Glaubst du, dass er tot ist?« »Wen meinst du?« »Tungdil.«
Ingrimmsch schöpfte Luft und bildete sich ein, dass es ihm schwerer fiel als sonst. Er verließ sich auf seine Zwergennatur, die mit dem Gift fertig werden würde. Da es ihn nicht auf der Stelle umgebracht hatte, würde es sein Ziel auch nicht später erreichen. »Mein Verstand müsste ja sagen. Von den zwanzigtausend Kriegern sind gerade einmal vierhundert am Leben geblieben.« Er rang um seine Fassung. »Aber ich habe seinen Leichnam nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Und niemand hat mir sagen können, wie er gestorben ist. Also gebe ich einen Orkfurz auf meinen Verstand. Ich sage, dass er noch lebt. Er mäht sich durch die Reihen der Bestien und sucht sich einen Ausgang. Er wird die Schlucht vom Bösen befreien und nicht eher aufhören, bis sie alle gefallen sind. Eines Umlaufs wird er vor uns stehen. Und wenn es fünfhundert Zyklen dauert.« Eine neuerliche Träne rann durch seinen Bart. »Diese lange Wartezeit ist mir nicht vergönnt, Ingrimmsch«, sagte Sirka mit erstickter Stimme. »Wenn er zurückkommt und dich nach mir fragt, dann...« Sie weinte.
Ingrimmsch stand zuerst steif wie ein Amboss neben ihr, dann überwand er sich und nahm sie in die Arme. Ihre und seine Tränen mischten sich, die Qual verband die Untergründige und den Zwerg.
»Sage ihm«, bat sie leise, »dass ich keinen anderen Mann mehr nach ihm erwählte. Auch wenn es nicht die Art meines Volkes ist. Ich weiß, dass ich niemals mehr einen Gefährten wie ihn an meiner Seite haben werde.« Sie ließ ihn los und trocknete ihre Tränen mit dem Ärmelaufschlag.
»Ich werde es ihm sagen«, versprach er ihr rau.
Schweigend gingen sie in das Gemeinschaftszelt, wo Lot-Ionan, Goda, Rodario und die Gemahlin des Stadtkönigs warteten.
Ihnen gegenüber saß ein von Kopf bis Fuß verhüllter Acront, der Kopf lag hinter einem netzartigen Stoff verborgen. Sein Gewand glich dem des ubarischen Runenmeisters.
Die Frau des Herrschers schaute zu Sirka und sagte etwas. »Sie haben auf mich gewartet«, übersetzte sie. »Der Acront möchte mit Goda über die Zukunft sprechen.«
Ingrimmsch betrachtete den Berg aus Stoff argwöhnisch. »Was soll es da zu besprechen geben?« Eine Hitzewelle lief durch seinen Leib und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Sein Körper schwitzte das Gift aus. Das war gut.
Der Acront erhob seine Stimme, die Gemahlin übersetzte die unheimlichen Geräusche, und Sirka wiederum gab sie in der Sprache des Geborgenen Landes wieder.
»Er sagt, dass die Ubariu noch keinen neuen oberen Runenmeister haben. Es käme dir zu, Goda, so lange in Letefora zu bleiben und über das Artefakt zu wachen, bis die Ubariu einen Nachfolger aus ihrer Mitte gewählt haben und er die Ausbildung durchlaufen hat. Er hat kleine, winzige Risse in der Kugel um die Schwarze Schlucht entdeckt, weil etwas den Diamanten verunreinigt hat. Etwas aus dem Geborgenen Land.« Sie wartete, bis ihr die Herrschersfrau weitere Worte des Acronten übermittelte. »Deswegen ist es unerlässlich, dass jemand Wache hält, um den Stein bei Bedarf zu stärken. Es wäre nur für die Dauer von...«, Sirka rechnete um, »vier Zyklen. Danach dürfte sie wieder zurück in ihre Heimat.«
»Und was ist, wenn sie nicht möchte?«, wollte Ingrimmsch wissen.
»Ihr dürft natürlich gehen. Aber denkt daran, dass ein Bruch in der Sphäre sehr wohl großes Unheil für das Geborgene Land bedeutet«, übersetzte Sirka. »Es wäre eben nur für den Übergang. Alle Wünsche werden erfüllt, es wird Goda an nichts mangeln. Und sie wird für ihren Dienst entlohnt.«
Goda saß verunsichert neben ihrem Meister. »Ich bin keine Maga«, sagte sie.
»Doch, das bist du«, sagte Lot-Ionan, der seinen verletzten Arm verbunden in einer Schlinge trug. »Du hast zwar noch keine Ausbildung erhalten, aber in deinem Inneren bist du eine Maga.«
»Es ehrt mich, dass Ihr so sprecht, ehrenwerter Lot-Ionan. Aber im Augenblick bin ich nicht einmal eine Famula.« Goda war unglücklich. »Was könnte ich ausrichten ohne das immense Wissen von Lot-Ionan?« Der Acront sprach wieder.
»Er sagt, du bist die Einzige, welche den Diamanten und das Artefakt berühren darf. Du bist mit den beiden verbunden und un erlässlich. Sollte sich irgendetwas an dem Artefakt ereignen, das zum Zusammenbruch des Schutzes führt, wäre niemand in der Lage, ihn wieder zu errichten«, lieh ihm Sirka ihre Stimme. »Er bittet dich um vier Zyklen deiner Anwesenheit.«
Goda schaute zu Ingrimmsch, aber der schüttelte den Kopf, dass der kurze schwarze Zopf hin und her tanzte. »Nein, es ist allein deine Entscheidung. Aber wenn du bleiben möchtest, werde ich nicht von deiner Seite weichen«, versprach er ihr. »Ich werde dich niemals wieder allein lassen. Und wer weiß, vielleicht kommt der Gelehrte zurück. Dann soll er wenigstens zwei bekannte Gesichter sehen«, grinste er.
»Dann ist es abgemacht«, willigte Goda ein, wobei man ihr ansah, dass es ihr nicht leicht fiel. »Ich bleibe, bis die Ubariu einen neuen Runenmeister haben.«
Der Acront verneigte sich, seine violetten Augen leuchteten hinter dem Stoff auf. Dann erhob er sich und verließ gemeinsam mit der Herrschergattin das Zelt. Er hatte alles gesagt, was wichtig war.
Rodario schaute ihm nach. »Das bedeutet dann wohl, dass auch er weder seelenrein noch unschuldig ist«, stellte er fest. Er zog den Verband um seinen Oberschenkel zurecht. »Was mich angeht, liebe Freunde, nehmt es mir nicht übel, aber ich ziehe nach ein paar Umläufen wieder ins Geborgene Land. Jemand muss denen sagen, was sich ereignet hat und dass wir alle in Sicherheit sind. Jedenfalls bis zu zum nächsten Abenteuer«, fügte er hinzu und strich sich über sein Kinnbärtchen. Er freute sich darauf, Tassia in die Arme zu schließen und seine Heldengeschichten zum Besten zu geben. »Ich sage euch, die Spectatores werden meine Zelte stürmen, um zu erfahren, was sich hier zugetragen hat.«
Ingrimmsch hob die Augenbrauen. »Zelte, Unglaublicher? Seit wann besitzt du mehrere?«
»Noch nicht, lieber Boindil, noch nicht. Aber es wird Zeit, aus meiner kleinen Wandertruppe ein Schauspielerimperium zu formen, das im gesamten Land vertreten ist.« Er nickte Goda zu. »Ich komme in regelmäßigen Abständen nach Letefora, um nach Neuigkeiten zu fragen, einverstanden?«
»Du wirst dich verirren und bei den Monstren landen«, neckte ihn der Krieger, der sich den Schweiß auf der Stirn mit dem Handrücken abwischte.
Der Hinweis beunruhigte Rodario in der Tat. »Mh, da werde ich mir was Hübsches einfallen lassen müssen, um die Strecke unbeschadet zu überstehen. Vielleicht nutze ich den geheimen Weg, diesen rätselhaften Pass, der unbemerkt ins Geborgene Land führt.« Er erhob sich. »Die Zelte werden morgen abgebrochen, wir kehren nach Letefora zurück, wurde uns gesagt. Und ich hoffe sehr, dass es da einige Eroberungen zu machen gibt. Es sind sehr hübsche Frauen auf den Straßen unterwegs.« Er hob grüßend die Hand und verließ die Unterkunft. »Auch ich werde das Jenseitige Land verlassen«, sagte der Magus zu den drei Zwergen. »Ich habe so eine Ahnung, dass ich zu Hause gebraucht werde. Es ist an der Zeit, neue Famuli zu suchen und die hohe Kunst der Magie im Geborgenen Land zu verbreiten.« Als er sich bewegte, fühlte er wieder einen Stich in seinem Rücken. Er dachte, dass er Nudins Silhouette neben dem Ausgang stehen gesehen hätte, aber die schwarzen Umrisse waren gleich wieder verschwunden. »Es wird nicht leicht sein, die magische Quelle auf dem Grund des Sees zu nutzen, aber es wird gehen. Tungdils Gedanke, künstliche Tauchglocken aus Blech zu formen, war sehr gut.« Goda lächelte. »Das Geborgene Land wird froh sein, wenn Ihr Eueren Beistand bringt. Werde ich in vier Zyklen als Euere Famula aufgenommen?«