Mallen schaute genauer hin. Es war kein Rucksack, sondern eine Art Kiste, die von sechs langen Stäben, die mitten im Leib steckten, an ihrem Platz gehalten wurde; vorn in Brusthöhe traten die Enden aus und waren durch überkreuz laufende Querstreben gesichert, damit sie nicht durch das Gewicht des Eisens auf dem Rücken herausgezogen wurden. Kein lebendiges Wesen überstand eine solche Tortur.
»Stein!«, wiederholte die Kreatur fordernd und tat einen Schritt vorwärts; der Eisenschuh krachte auf die Bodenplatte und hinterließ einen Riss. Die Runen glommen einschüchternd dunkelgrün - bis auf eine. Sie wäre Mallen ansonsten nicht aufgefallen, und dabei unterschied sie sich deutlich von den anderen: Sie sah elbisch aus! »Was bist du?«, fragte König Nate, der den Diamanten unerschrocken in seiner Hand barg. »Was willst du mit dem Stein?«
Mallen drehte sich zu Rejalin um, die leichenblass auf der Tanzfläche verharrte und das Monstrum anstarrte. In ihren Augen las er Erkennen. Was mag das bedeuten?, dachte er.
Da sprang das Monstrum in die Höhe. Ohne sichtliche Anstrengung setzte es über die Reihen der Soldaten hinweg und landete neben Nate; krachend zersplitterte der Marmor unter ihm. Bevor jemand etwas unternehmen konnte, packte es den Herrscher und entriss ihm den Diamanten, was Nate drei seiner Finger kostete. Schreiend sank er auf die Knie; Blut floss über seine Hand und beschmutzte die kostbare Kleidung.
Alvaro und Mallen griffen an, einer von rechts, der andere von links.
Das Scheusal brüllte und fing Alvaros Schlag mit der bloßen Hand ab. Die Runen auf seiner Rüstung leuchteten grün auf, und es zerbrach die Klinge so spielerisch, als bestünde sie aus dünnem Holz. Danach trat es dem Offizier derart kraftvoll vor die Brust, dass er wie von einem Katapult abgefeuert gegen die heranstürmenden Wächter prallte und drei von den Beinen riss.
Mallen dachte, wenigstens sein Angriff habe Erfolg, aber sein Gegner wandte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit ab, sodass die Schneide gegen den Brustpanzer prallte. Wirkungslos federte das Schwert zurück.
Als Antwort zischte die Stahlfaust heran.
Mallen duckte sich, und anstelle seines Gesichts zertrümmerte sie seinen Schild. Er bekam eine Ahnung davon, wie es einer Mauer erging, wenn sie von einem Rammbock getroffen wurde. Trotz des Gewichts seiner Rüstung hob es ihn an, er verlor den festen Stand und flog zwei Schritte durch die Luft. Hart prallte er gegen die Wand und sah Sterne vor seinen Augen tanzen.
»Worauf wartet ihr?«, schrie er. »Es hat den Stein! Lasst es damit nicht entkommen!« Er warf den zertrümmerten Schild zur Seite und griff wieder an.
Die Soldaten waren aus ihrer Starre geweckt worden und hofften auf ihre Überzahl.
Das Wesen drosch mit einem eroberten Schwert um sich und streckte einen der Männer nieder. Das Leuchten der Runen ver stärkte sich, die Zeichen schienen ihm immense Kräfte zu geben. Es packte sein Opfer einhändig am Bein und schlug brüllend mit ihm auf die Wachen ein, die der menschlichen Keule entsetzt auswichen. Das öffnete dem Monstrum die Lücke, durch die es auf der Stelle flüchtete. Es hatte, was es begehrte. Der blutige Kadaver des unglücklichen Wärters blieb grässlich verdreht und geschunden zurück.
Vor dem Treppenaufgang stellte sich ihm Alvaro vornübergebeugt in den Weg, das Schwert am ausgestreckten Arm gegen die Bestie gereckt. »Das Gesicht eines Elben, der Körper eines Orks und die magischen Runen Dsön Baisurs auf deiner Rüstung: Was bist du?«, verlangte er hustend zu wissen.
Mallen rannte auf den Rücken des Scheusals zu, fünf Gardisten folgten ihm. Er hoffte, den Stein zurückerobern zu können. Alvaro wusste, dass er die Bestie allein nicht besiegen konnte. Er wollte seinem Prinzen die Zeit verschaffen, um sie hinterrücks anzugreifen.
Doch das Scheusal verstand zu genau, was der Offizier bezweckte. Es blickte über die Schulter nach den Verfolgern, bleckte die Zähne, ließ sein Schwert fallen und rannte an Alvaro vorbei.
»Bleib stehen!« Der Offizier hob seine Waffe zum Schlag.
Das grässliche Wesen berührte ihn mit seiner Linken am Kopf; die Runen erstrahlten, und ein greller Blitz entlud sich, der alle Anwesenden im Raum blendete.
Als Mallen wieder etwas sah, war der Angreifer verschwunden. Rejalin kniete neben Alvaro und hielt seinen Kopf; aus dem Hals des Mannes sickerte ein unaufhaltsamer Strom Blut.
Die Wachen rannten die Treppe hinauf, um draußen nach dem Monstrum Ausschau zu halten, während Mallen neben dem schwer verwundeten Offizier in die Hocke ging. »Nein, mein Freund! Lass deine Seele nicht gehen!« Er riss ihm die falsche Gnomennase ab, nahm seine Hand und drückte sie. Er bemühte sich, seine Bestürzung zu verbergen, um Alvaro über die Schwere seiner Verletzung im Unklaren zu lassen. Er würde Hoffnung dringend benötigen. »Ich beschwöre dich!«
Alvaro versuchte etwas zu sagen, seine Augen huschten immer wieder zu der Elbin, aber er spuckte Blut und krächzte unver ständliche Worte; schließlich entspannte sich sein Leib, die Augen brachen und verloren alles Lebendige. Tränen quollen aus Mallens Augen. Er schämte sich ihrer nicht. Er hatte einen Mann verloren, mit dem er Seite an Seite in aussichtslose Schlachten geritten und dennoch lebend zurückgekehrt war. Was keine Orkschwerter vermocht hatten, hatte das unbekannte Monstrum mit einer Handbewegung vollbracht. »Da siehst du, was du von deinem Wunsch nach Kämpfen hattest«, sagte er leise und schloss die Lider des Toten. »Du wirst nicht vergessen werden. Dein Tod bleibt keinesfalls ungerächt.« Er nickte Rejalin zu, die ihn mitleidig betrachtete. »Stimmt es, was er sagte?«
»Was meint Ihr, Prinz Mallen?« Sie senkte den Kopf des Offiziers behutsam auf den Boden und betrachtete voller Scheu sein Blut, das an ihren Fingern klebte. Mallen nahm an, dass sie zum ersten Mal in ihrem bisher behüteten Leben voller Kunst und Poesie dem gewaltsamen Tod ins Angesicht schaute.
»Alvaro hat die Runen auf der Rüstung der Kreatur als die der Albae erkannt. Auch ich meinte, dass sie mir vage bekannt vorkamen. Sie glichen denen, die ich bei ihrem Heer in Porista sah. Was könnt Ihr mir dazu sagen?« Die Elbin wich seinem Blick aus.
Mallen ließ die Hand des Toten los. »Habe ich eine Elbenrune auf der Rüstung erkannt?«
»Ihr habt Euch getäuscht.«
Entgegen aller Gepflogenheiten des Respekts und der Höflichkeit fasste er sie am Arm und zwang sie mit sanftem Druck, ihm in die Augen zu schauen. »Rejalin! Was wisst Ihr?«
»Nichts«, sagte sie feindselig und riss sich los. »Ich stand zu weit weg, um etwas von dieser Kreatur zu erkennen.«
»Ihr lügt! Eure Augen haben sich vor...«
»Ihr wagt es, mich, Rejalin von Älandur, der Unwahrheit zu bezichtigen?« Sie sprang auf. »Ich hätte es besser wissen müssen. Ihr seid ein ungehobelter Klotz, wie beinahe jeder Mensch, der mir bisher begegnet ist«, sprach sie herablassend. »Ich fürchte, Euer Reich wird einer äußerst genauen Untersuchung bedürfen, damit es von unserem Wissen kosten darf.«
Mallen kam es so vor, als sei soeben eine Maske vom wahren Wesen der Elbin geglitten; der Zorn offenbarte ihre eigentliche Haltung gegenüber ihm und seinesgleichen. Die Bewunderung, die er bislang für sie verspürt hatte, geriet ins Wanken. »Einer der Diamanten ist geraubt, und Ihr habt keine anderen Sorgen?«
»Es ist einer von vierzehn.«
»Es ist der zweite von vierzehn«, berichtigte sie Mallen und stand ebenfalls auf. »Rejalin, Ihr werdet mir sagen, was Ihr über...«
Die Elbin wandte sich einfach um und ging zu König Nate.
Der Prinz folgte ihr. Da stellten sich ihm die beiden Besucher in den Orkkostümen in den Weg. »Rejalin möchte sich nicht weiter mit Euch unterhalten, Prinz Mallen von Idoslän«, kam es unter der Maske aus Papiermaschee hervor. Der Mann hob die Hand und streifte sie ab; darunter erschien ein Elbengesicht, das ihn freundlich, aber kühl anlächelte. »Sie möchte sich lieber um ihren Gastgeber kümmern und sehen, was das Wissen der Elben bei seiner Verletzung ausrichten kann.«