»Weil sie dort ungestörter vorgehen können als von einem Ort im Geborgenen Land aus«, gab Gandogar dem Zwilling Recht.
»Es würde erklären, weshalb sie die Tunnel und Hallen, von denen Ihr spracht«, mischte sich Eldrur ein, »zum Einsturz brachten: Sie wollten sichergehen, dass niemand sie findet und erreichen kann.« Er folgte den Vermutungen seiner beiden Vorredner. »Ich denke, dass sie kurz hinter der Grenze im Jenseitigen Land sitzen und ihre Maschinen gegen Euch senden.«
Gandogar legte den Brief auf den Tisch. »Xamtys' Vorschlag ist gut. Ich berufe eine Versammlung ein. Alle Stämme und auch die Freien sollen entscheiden, was wir unternehmen. Im Grunde müssten wir über den Nordpass ausziehen und nach der Werkstatt der oder des Übeltäters suchen.«
»Einen zumindest haben wir gesehen«, sagte Boindil und ballte beide Fäuste. »Oh, wären wir nur ein wenig schneller gewesen... Wer weiß? Am Ende hätten wir den Spuk rascher beendet, als wir es uns jemals erträumten.«
Tungdil war nicht mehr in der Lage, dem Gespräch zu folgen; der Raum drehte sich um ihn, und sein Magen zog sich zusammen. »Ich muss gehen«, brabbelte er undeutlich, erhob sich und schwankte zum Ausgang. Boindil folgte ihm und stützte ihn, ehe er vor der Tür gestrauchelt wäre. »Lass mich«, wies Tungdil ihn zurück. »Ich kann alleine gehen.« Er riss sich los, wankte hinaus und verschwand.
Ingrimmsch schaute ihm betrübt nach. Er erkannte seinen Freund fast nicht mehr wieder. Seufzend kehrte er an den Tisch zurück, wo die Elben mit gerümpften Nasen und Gandogar mit unfreundlicher Miene warteten. »Es ist ein Fieber, das er sich unterwegs zugezogen hat«, sagte er, um eine Ausrede vorzubringen. »Es benebelt gelegentlich seinen Verstand.«
Irdosil lächelte ihn an; in seinen hellen Augen stand zu lesen, dass er dem Zwerg nicht eine Silbe glaubte, doch er ersparte ihm die Peinlichkeit, ihn einer Lüge zu überführen. Zwerge logen doch angeblich nicht. »Dann machen wir es auf diese Weise«, sagte der Großkönig. »Noch heute gehen die Einladungen für eine Versammlung der Stämme auf Reisen.« Er wandte sich an die Elben. »Ihr seid sehr herzlich eingeladen, der Versammlung beizuwohnen.«
Boindil öffnete den Mund und wollte etwas anmerken. Er besann sich anders und schob sich stattdessen einen Bissen in den Mund. Die Offenheit Gandogars schmeckte ihm gar nicht. Die Spitzohren am Leben und den Gewohnheiten teilnehmen zu lassen, war eine Sache, aber sie im wichtigsten Gremium dabei zu haben, fand er als starkes Stück. Da fiel ihm etwas ein, wie der Spieß in zwei Richtungen stach. »Sag, wer von uns wird nach Älandur gehen, Großkönig?«, meinte er gelöst und zwinkerte Eldrur zu.
»Ich verstehe nicht, Boindil«, gab Gandogar irritiert zurück. »Was meinst du?«
»Den Besuch unseres Volkes. Unsere Elbenfreunde sind allerorten zu Gast, wenn ich die Worte richtig verstanden habe«, holte er aus. »Da werden sie doch sicherlich erwarten, dass zumindest wir, die Kinder des Schmieds, eine Abordnung nach Älandur senden, um ihnen die gleiche Ehrerbietung zu erweisen.« Eldrur lächelte misslungen. »Fürst Liütasil besteht nicht darauf, Boindil Zweiklinge, da er um das Unwohlsein Eures Volkes weiß, längere Zeit unter freiem Himmel oder in Wäldern leben zu müssen.«
Ingrimmsch kreuzte die Arme vor der Brust und über seinem schwarzen Bart. »So haben wir nicht gewettet, Freund Elb. Was du ertragen kannst, nämlich unter Tage zu leben, das schaffen wir sicherlich ebenso gut. Ich fürchte mich nicht vor einem Baum.«
Gandogar grinste, er hatte verstanden. »Ein sehr guter Vorschlag, Boindil. Warum übernimmst nicht du das vertrauensvolle Amt?«
»Ich?« So hatte sich der Zwilling den Ausgang des Disputs allerdings nicht vorgestellt. »Ich denke, dass ich hier besser aufgehoben bin, Großkönig Gandogar. Wenn wir ins Jenseitige Land ziehen, wirst du mich benötigen.« »Daran bestand niemals ein Zweifel. Doch es wird lange dauern, bis alle Vertreter der Clans und Stämme hier eintreffen«, meinte Gandogar unnachgiebig. »Und da Älandur nicht weit von hier entfernt ist, schlage ich vor, dass du dem Reich der Elben zumindest einen Höflichkeitsbesuch abstattest. Wer könnte dazu besser geeignet sein als einer unserer größten Helden?«
»Großkönig, ich...«, versuchte Boindil, seinen Herrn umzustimmen, und schaute nun ebenso betroffen drein wie Eldrur.
»Es gibt keine Widerrede, Boindil«, sagte Gandogar freundlich. »Du wirst bei Sonnenaufgang mit Geschenken aufbrechen und Liütasil meinen persönlichen Dank für seine Bemühungen für den Austausch zwischen den Völkern überbringen. Ich lasse dich rufen, sobald die Versammlung zu einer Einigung gekommen ist und wir ins Jenseitige Land vorstoßen.« Er erhob sich und nickte den Elben zu. »Eldrur, sei so freundlich und stelle meinem Gesandten ein Schriftstück aus, in dem in deiner Sprache steht, was er möchte und dass er auf Geheiß sowie mit der besten Empfehlung des Großkönigs kommt.«
»Gewiss, Großkönig Gandogar«, verneigte sich der Elb, während Gandogar die Halle verließ und Boindil mitsamt den Gästen allein mit dem Essen ließ.
Eldrur musterte die bärtigen Züge des Kriegers, der lustlos in seinem Mahl stocherte. »Ihr verwünscht Euch gerade selbst, nicht wahr?«, meinte er und traf die Gedanken des Zwergs haargenau.
»Nein.« Ingrimmsch kaute auf einem Stück Pilz. »Ich könnte mich ohrfeigen.« Er zeigte auf den Krähenschnabel. »Mit dieser Waffe hier.«
Die Elben lachten. Ein leises, unaufdringliches und melodisches Geräusch, mehr ein vornehmer, zu heller Chor als ein echtes, freudiges Gelächter und falsch wie Gnomengold. »Ihr seid mit Sicherheit eine Abwechslung für Älandur«, prophezeite Eldrur, ohne wirklich glücklich zu sein.
»Schreib in deinen Wisch, dass dein Fürst mich gleich wieder nach Hause schicken soll«, bat er grimmig. »Ist es mit Eurer Leidensfähigkeit doch nicht so bestellt, wie Ihr uns glauben machen wolltet?«, flachste Irdosil. »Was gäbe ich, an Eurer Stelle sein zu dürfen.«
»Das würde nicht gehen.« Ingrimmsch warf ihm einen abschätzenden Blick zu, dann schaute er auf seinen Teller. »Du bist zu lang für einen Zwerg«, brummte er, schob das Gedeck von sich und stand auf. »Ich meinte damit nicht, ein Zwerg sein zu wollen, sondern...«
»Ach? Du willst also kein Zwerg sein?« Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Hast du doch etwas gegen mein Volk?« Er legte die kräftige Hand auf den Kopf des Krähenschnabels. »Sag es frei heraus, Freund, dann ist es ausgesprochen.«
»Nein, nein!«, wehrte Irdosil hastig ab. »Was ich damit meinte, war...«
Eldrur lachte. »Er hat dich aufgezogen, Irdosil, hast du es nicht bemerkt?«
Nun grinste Boindil. »Es hat lange gedauert, bis er es bemerkte.« Er schlenderte zur Tür, die Waffe geschultert. »Kennt einer von euch dreien den Witz, bei dem der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt?« Sie schüttelten die Köpfe. »Dann wird es Zeit, dass ich den wahren Humor in die Wälder trage.« Er blinzelte und ging hinaus. Antamar, der bislang kein einziges Wort gesagt hatte, sah Eldrur an. »Eine dumme Sache.« »Ich weiß«, erwiderte Eldrur verstimmt. »Aber was hätten wir tun sollen?«
»Vorhin? Nichts.« Antamar schaute sie der Reihe nach an. »Jetzt wirst du ihm einen passenden Begleitbrief schreiben.«
Eldrur hatte die Betonung des Wortes passend genau vernommen. Mehr musste nicht mehr gesagt werden. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft verlief sich Tungdil mehrmals, bis ihn jemand zu einem Bett geleitete. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er sich befand, aber sein trunkener Kopf entdeckte sogleich die Flasche Branntwein auf dem Vorratsregal.