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So sehr sein Magen ihm drohte, den Inhalt herauszuwürgen, er stand auf und nahm die Flasche an sich. Gierig entkorkte er sie und nahm einen tiefen Schluck.

Kaum schwappte das scharfe Getränk seine Kehle hinab, übergab er sich auch schon vor das Bett. Mehrfach drängte sein Essen mit Macht nach oben, sodass der Nachttopf, den er in seiner Not ergriff, nicht ausreichte. Hustend rang Tungdil nach Luft. Dabei fiel sein Blick auf den großen Silberspiegel mit seinem Abbild darin. Er sah sich in seinem ganzen Elend, in der einen Hand die Flasche, in der anderen den Nachttopf, den Bart und das Kettenhemd voller Erbrochenem, der Körper dick und aufgedunsen, ungepflegt - eine Hohnfigur des Helden, der er einst gewesen war.

Tungdil sank in die Knie; er konnte die braunen Augen nicht von dem Spiegelbild wenden, das ihm seine ganze Erbärmlichkeit gnadenlos zeigte.

»Nein«, wisperte er. Er schleuderte die Flasche gegen das polierte Silber; sie zersplitterte und übergoss das Abbild mit Alkohol. Der hässliche Tungdil glotzte ihn immer noch aus roten Augen an. »Nein!«, schrie er und warf den Topf, verfehlte den Spiegel jedoch. Er hielt sich die Augen mit den Händen zu. »Geh weg!«, brüllte er und fing an zu weinen. »Geh weg, du Mörder. Du hast ihn umgebracht...« Er sank auf die Steinplatten und ergab sich der Trauer, schluchzte und jammerte, bis ihn der Schlaf übermannte.

Daher spürte er nicht mehr, dass starke Hände ihn hochhoben und davontrugen.

Das Geborgene Land Königinnenreich Weyurn, Mifurdania 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling Rodario saß in bequemen und weniger teuren Kleidern auf den Stufen der schmalen Leiter, die in seinen Wagen führte, und dachte über ein neues Stück nach, das er zum Besten geben könnte.

Er und sein Tross lagerten auf einer kleinen Insel vor der eigentlichen, von Wasser umspülten Stadt. Nach dem Beben hatten sich die Wasserflächen Weyurns vervielfacht und etliche Bewohner ihr Hab und Gut verloren. Rodarios Truppe hatte im Königinnenreich mehr Strecke auf Schiffen und Inseln denn auf festem Land zurücklegen müssen, denn lediglich kleine Teile Weyurns waren von Überschwemmungen verschont geblieben. Ein merkwürdiges Bild.

Es wurde Zeit für eine neue Heldengeschichte, denn die alte vom Sieg über die Eoil und die Avatare begeisterte ihn längst nicht mehr wie früher. Es kam ihm so vor, als ginge es den Zuschauern ebenso.

Oder vielleicht lieber eine Komödie?, fragte er sich. Den geschätzten Spectatores stand der Sinn mehr nach Unterhaltung, nach Witz, und weniger nach Pathos und Gemetzel. Die Zeiten waren gut und sorgenfrei, die Menschen des Geborgenen Landes wollten sich vor Lachen biegen und sich ordentlich über Zoten auf der Bühne amüsieren.

Nachsinnend betrachtete er Tassia, die ihre Wäsche über einezwischen zwei Wagen gespannte Leine hängte. Die Sonnenstrahlen machten ihr dünnes Leinenkleid an manchen Stellen durchsichtig. Als ob sie seinen begehrenden Blick bemerkte, hielt sie inne, drehte sich zu ihm und winkte.

Er hob die Hand mit der Feder und grüßte zurück. Keine Frage, sie würde die Hauptrolle in dem Stück spielen und ihm die Männer in Scharen ins Zelt treiben.

»Ach ja, die Männer«, murmelte er. Eifersüchtig verfolgte er, wie Reimar, einer der Arbeiter, die er für das Aufschlagen der Zelte eingestellt hatte, mit einer Blume zu ihr trat und sie überreichte. Tassia lachte fröhlich und gab Reimar einen Kuss. Auf den Mund. Und sie erlaubte ihm, dass er eine Hand an ihre Taille legte. »Tassia, kommst du bitte zu mir?«, rief er lauter als gewollt. »Und du, Reimar, scher dich zurück an die Arbeit!« »Sofort, Meister des Wortes.« Sie klammerte ein Leibchen auf der Leine fest, strich Reimar über die Wange und schlenderte mit dem leeren Korb unter dem Arm auf Rodario zu. »Womit kann ich dir dienen?« »Ich brauche deinen Rat«, erfand er aufs Geratewohl einen Vorwand. In Wirklichkeit hatte er sie von Reimar befreien wollen. Er hielt ihr seine Notizen hin. »Was sagst du dazu?«

Sie nahm die Blätter und warf einen Blick darauf. »Unmöglich.«

»Unmöglich?«, wiederholte er entsetzt und entriss sie ihr. »Aber es ist...«

»Unmöglich zu lesen«, lachte sie ihn aus und setzte sich auf seinen Schoß. »Deine Schrift ist furchtbar. Du wirst mir erzählen müssen, was du vorhast.« Sie fuhr durch sein langes, dunkelbraunes Haar und spielte mit einer Strähne. Dann grinste sie. »Es war nicht nur ein Vorwand?«

»Nur um dich in meinen Armen zu halten, liebreizendste Gestalt des Geborgenen Landes«, lächelte er falsch, wobei niemand, der ihn nicht länger als zehn Zyklen kannte, einen Unterschied zu einem echten Lächeln bemerkt hätte.

»Aber doch nicht, um den armen Reimar zu verscheuchen?«, stichelte sie. »Er ist so nett. Und stark und voller Muskeln.«

»Leider wohnt kein Grips in seinem tumben Schädel. Seine Manieren befinden sich auf der gleichen Höhe mit denen eines Schweins.« Rodario strich sich über sein Kinnbärtchen. »Und ich sehe eindeutig besser aus. Wie du feststellst, ist er kein Konkurrent für mich.«

Tassia gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Manchmal, mein genialer Schöpfer von Sätzen und Szenen, braucht eine Frau keinen Mann mit Grips oder Manieren«, erwiderte sie mit einem vorgetäuscht unschuldigen Augenaufschlag, der ihm alles sagte.

Rodario sprang auf und ließ sie absichtlich zu Boden rutschen. »Du vergnügst dich hinter meinem Rücken mit anderen?«

»Wir wollen doch mit gleichem Maß messen, Liebster«, lachte sie und legte sich ins Gras, die Arme hinter dem blonden Schopf verschränkt. »Ich habe Geschichten über dich gehört, welche den Vermehrungsdrang eines Rammlers in den Schatten stellen. Und mir sind sehr wohl die entzückten Frauenzimmer aufgefallen, die am Straßenrand Mifurdanias standen und dich anhimmelten.« Tassia schloss die Lider und wandte ihr anmutiges Gesicht der Sonne zu. »Sie waren zwar nicht mehr die Jüngsten, aber sie wären einem Techtelmechtel mit dem Unglaublichen Rodario keinesfalls abgeneigt.«

»In der Tat, ich... bin bei Frauen begehrt«, räusperte sich der Schauspieler. »Seit ich dich kenne, Tassia, ist es anders geworden.«

»Ah, ah, ah!« Sie hob den Arm und reckte mahnend den Zeigefinger. »Dafür würde ich an deiner Stelle die Hand nicht ins Feuer legen, mein Geliebter. Ich bin weder blind noch taub oder dumm und durchaus in der Lage, manche nächtliche Geräusche gewissen Akten zuzuschreiben.«

Rodario fing an zu schwitzen, und daran war nicht allein die Frühlingssonne schuld. Sein Angriff drohte in einer breiten Niederlage zu enden. In einer vernichtenden Niederlage. »Ich... habe... das Fechten geübt.« »Deswegen schwankte dein Wohnwagen so sehr?«

»Es waren... schnelle Sprünge und Ausfälle.«

»Und mit welchem Schwert, Liebster?«, fragte Tassia zuckersüß. »Oder war es ein Dolch? Oder das Taschenmesser, das jeder Mann mit sich herumträgt?« Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Ich stelle mir das Fechten sehr schwer vor, wo du doch gleichzeitig noch eine Frauenrolle eingeübt hast, deren Text darin bestand, leise zu stöhnen und Oh, du Unglaublicher zu hauchen.«

Rodario starrte sie an, er öffnete den Mund, er stammelte und stotterte, bis ein Lachen aus ihm herausbrach, in das Tassia einstimmte. »Ich glaube, ich werde meinen Titel an dich abtreten müssen«, lobte er sie und setzte sich neben sie ins frische Grün.

»Den des Herzensbrechers oder das unglaublich!«, flachste sie und bewarf ihn mit einem Grashalm. »Ich sollte mich wirklich weniger über Dinge aufregen, die ich in meinem Leben bislang ständig getan habe«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. Er legte sich hin, stützte den Kopf auf den Arm und betrachtete sie voll geheucheltem Mitleid. »Du armes, armes Ding hast noch so viel nachzuholen, wo dein Gatte sich mehr für Männer als für Frauen begeisterte.«

Ihre Heiterkeit verflog. »Ja«, sagte sie mit zitterndem Kinn, den Tränen nahe. »Oh, ich bin schändlich, nicht wahr?« Sie legte die Hände vors Gesicht, ihre Schultern bebten. »Schande über mich. Die Götter...« »Halt, halt!«, unterbrach er sie. »Du hast zu schnell angefangen zu heulen.«