»Das würde erklären, warum sich die übrigen Scheusale nicht mehr über den Nordpass gewagt haben«, grinste Ingrimmsch. »Wenn sich eine Familie Djerüns im Jenseitigen Land vor dem Portal des Steinernen Torwegs eingenistet hat, müssen wir uns keine Sorgen mehr machen.«
Tungdil nickte. »Bessere Voraussetzungen könnten die Dritten, sofern sie dahinterstecken, fast nicht mehr bekommen: Sie haben alle Gänge versperrt und sich geheime Tunnel in unser Reich gegraben, durch die sie die Maschinen schicken, während ihnen Djerüns Artgenossen Belästigungen durch Orks und andere Bestien vom Leib halten.«
Sein Freund schwieg eine ganze Weile. »Was denkst du: Werden wir ein Heer ins Jenseitige Land entsenden, um die Dritten aufzustöbern?«
»Ich schätze, dass der Großkönig keine andere Wahl hat«, sagte Tungdil und zügelte sein Pony vor dem Gasthof, der eine riesige Stallung besaß. Offenbar diente die Kreuzung als beliebter Pferdewechselplatz für Kaufleute, Reisende und Händler.
Ein Junge kam angelaufen und nahm ihre Tiere am Zaumzeug. »Guten Abend, die Herren Zwerge. Vraccas möge mit Euch sein«, grüßte er sie artig. »Darf es frisches Gras und Hafer für Eure Ponys sein und eine gute Unterkunft für die Nacht?«
Boindil warf ihm einen silbernen Münzling zu. »Reicht das, damit du gut auf sie Acht gibst und ihnen die beste Pflege angedeihen lässt?«
»Sicher, Herr Zwerg!«, rief der Junge glücklich. »Ich striegele sie besonders lange, bis das Fell glänzt!« Er führte die Ponys unter das große Vordach und machte sich gleich an die Arbeit.
Tungdil und Ingrimmsch betraten das Innere des Gasthofs und staunten über das, was der Wirt an Andenken zusammengetragen hatte. Die Wände hingen voller alter Waffen der Orks und Albae, dazwischen baumelten Zähne aller möglichen Kreaturen. Lange Nägel waren dazu benutzt worden, um die skelettierten Schädel von Ungeheuern durch die leeren Augenhöhlen an den Holzbalken zu befestigen.
»Schau dir das an«, murmelte Boindil und nickte in die Ecke neben dem Tresen. Dort reckte sich ein lebensgroßer, ausgestopfter Ork, den rechten Arm mit dem schartigen Schwert zum Schlag erhoben; der linke hielt ein Schild, auf dem GILSPAN HAT MICH GETÖTET geschrieben stand. Auf seiner Rüstung prangten die Preise für die Getränke.
»Man muss die Menschen und ihren Humor nicht immer verstehen«, merkte Tungdil an und schritt durch den gefüllten Gastraum zu einem Tisch neben dem Fenster, durch das der rote Schein der untergehenden Sonne fiel. Ein junger, drahtiger Mann erschien, eine Schürze um die Leibesmitte gebunden und auf dem Gesicht ein Lächeln, das dem Unglaublichen Rodario alle Ehre gemacht hätte. »Willkommen, die Herren Zwerge, in Gilspans Jagdhütte.«
Ingrimmsch gluckste in seinen Bart. »Du Hänfling bist Gilspan?«
»Durchaus, Herr Zwerg«, gab der junge Mann verschnupft zurück.
»Wie alt warst du, als du die Schweineschnauze getötet haben willst? Vier oder fünf Zyklen?«, lachte er freundlich und kniff prüfend in Gilspans Oberarm. »Ho, deine Muskeln reichen aus, um ein volles Tablett zu schleppen, aber nicht, um in einem Kampf zu bestehen. Hast du den Ork tot auf dem Schlachtfeld gefunden?« Die ersten Gäste drehten die Hälse, um nach dem Krakeeler zu sehen, der die Tapferkeit des Wirtes infrage stellte.
»Ich habe ihn mit einem Stich ins Herz getötet, Herr Zwerg!«
»So, so, ins Herz.« Ingrimmsch schaute zu dem ausgestopften Ork. »Und wo liegt das Herz bei einer Grünhaut?« Gilspans Kopf lief rot an.
»Lass es gut sein, Boindil«, griff Tungdil ein. »Bring uns bitte zwei starke Biere und einen deftigen Eintopf, dazu einen halben Laib Brot.« Er schob eine Münze über den Tisch. Gilspan steckte sie beleidigt ein und zog von dannen.
»Wäre er der Mann, für den er sich hält, hätte er mich auf der Stelle herausgefordert«, brummte Ingrimmsch. Er suchte seine Pfeife, stopfte sie und zündete sie mit der Kerze an, die auf dem Tisch stand. Flüssiges Wachs tropfte auf den Tisch und bildete einen kleinen Teich. »Er hat die Schweineschnauze niemals niedergestreckt, da verwette ich meinen Bart.«
Das Bier wurde ihnen gebracht und lieblos vor ihnen abgestellt. Zufall oder nicht, aus Boindils Humpen schwappte es über den Rand und traf ihn im Schritt. Gilspan lächelte falsch, aber entschuldigend und eilte davon. »Bringt mir eine Karaffe Branntwein«, rief ihm Tungdil nach, setzte seinen Humpen an die Lippen und leerte ihn in einem langen Zug. Kaum stand der Nachschub auf dem Tisch, machte er sich gierig darüber her; dunkel rann das Bier über seinen Bart und färbte ihn an manchen Stellen ein.
»Wie kam das, Gelehrter?«
Tungdil wischte sich über den Mund und den Bart. »Ich habe zu schnell getrunken.«
»Ich meinte, dass du trinkst, als wäre der alte Säufer Bavragor dein kleinerer Bruder«, setzte Boindil ungewohnt scharf nach. »Erkläre es mir, warum du dich verändert hast. Und weswegen Balyndis trauert.« Tungdil ärgerte sich, dass ihm diese Andeutung entschlüpft war. »Wegen Balodil.«
»Balodil.« Der Zwilling neigte den Kopf nach vorn, dass sein schwarzer Bart beinahe in den Humpen eintauchte. »Und wer ist Balodil?«
»Unser Sohn.« Tungdil nahm einen Schluck vom Branntwein. »Gewesen.«
Boindil hütete sich, eine Bemerkung zu machen. Allmählich fügten sich Tungdils Verhalten und die Äußerungen zu einem Bild mit einem hässlichen Motiv darauf.
Gilspan brachte das Essen. Keiner rührte es an, obwohl es sehr gut duftete und sie nach der langen Reise hungrig waren. Erst musste die Vergangenheit ans Licht.
»Er kam vor vier Zyklen zur Welt und krönte unsere Liebe«, flüsterte Tungdil abwesend, auf die flackernde Kerze starrend. »Ich nahm ihn mit, um Besorgungen zu erledigen, und versprach Balyndis, auf ihn aufzupassen. Doch die Holzbrücke über den Fluss, die ich immer nahm, war durch das letzte Hochwasser lose geworden.« Er stürzte den Branntwein hinab. Sein Gesicht geriet zu einer Grimasse der Abscheu. »Ich bin Tungdil Goldhand, Bezwinger von Nöd'onn und Avataren, Schlächter Hunderter Orks und ein Gelehrter. Da werde ich wohl über eine wacklige Brücke gelangen«, verhöhnte er sich selbst und blickte seinem Freund in die Augen. »Die alte Brücke, Boindil, hat es mir gezeigt. Sie gab einfach unter dem Karren nach, und wir versanken. Das Kettenhemd zog mich nach unten. Ohne das leere Fass, das von unten gegen mich trieb, wäre ich ertrunken.« Das Lachen und die Unterhaltungen in der Gaststube fraßen seine Worte. »Nun sitze ich vor dir und erzähle dir von Balodil. Was denkst du, wie die Sache für ihn endete?« Dieses Mal machte er sich nicht einmal die Mühe, Branntwein aus der Karaffe in den Becher zu leeren, sondern trank gleich daraus. Er setzte sie ab, schnappte nach Luft und rülpste. »Ich habe seine Leiche nicht gefunden, so sehr ich auch suchte. Seitdem hasse ich mich. Balyndis kann es mir niemals verzeihen, und ich... ich gebe mich dem Suff hin. Ich saufe, bis ich sterbe.« Er hielt inne. »Nein, damit ich sterbe. Ich hätte zusammen mit meinem Sohn ertrinken sollen, anstatt mein restliches langes Leben auf diese Weise zu führen. Jetzt ertränke ich mich eben.« Angewidert schob er den Eintopf von sich. »Es war ein Unfall, Gelehrter. Morsches Holz«, warf Boindil ein, um ihm die Schuld zu nehmen. »Morsches Holz und der Fluch der Göttin Elria. Er hat dich getroffen, dich, den Karren und deinen Sohn nach unten gezogen. Du kannst nichts dafür.«
»Das sagt Balyndis ebenfalls.« Er senkte den Kopf. »Doch in ihren Augen steht die stumme Anklage, sooft ich sie anschaue. Ich fürchte, unsere Liebe ist seit diesem Tag erkaltet. Sie denkt, ich merke nicht, was sie in Wahrheit für mich empfindet - die Abscheu und den Hass, den sie verbirgt. In unserem Stollen ist es kalt wie niemals zuvor. In meinem Herzen wohnt eine Unglücklichkeit, die mir die Lust am Leben raubt.« Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Jetzt weißt du, warum ich so geworden bin. Ich gehe zu Bett, Boindil.« Schwankend stand er auf, wankte die Treppen zu den Zimmern hinauf und verschwand.