Ingrimmsch wischte sich die Tränen aus den Augen, die er heimlich vergossen hatte. Dann fasste er den Entschluss, seinem Freund zu helfen und ihm die Lust am Leben zurückzugeben. Das gelang nur auf eine Weise. »Vraccas, sende deine Gnade auf uns herab. Und gewähre sie vor allem Tungdil.« Er schaute nach Gilspan, der neue Gäste großspurig begrüßte und auf den ausgestopften Ork zeigte, dann wurde dem Mann eifrig auf die Schulter geklopft.
Boindil erhob sich, stapfte die Treppe hinauf. Er musste mit Balyndis sprechen, denn er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie fühlte, was Tungdil ihr unterstellte.
Es war schon spät in der Nacht.
Gilspan saß am Tisch mit den letzten Gästen und erzählte einmal mehr die Geschichte vom erschlagenen Ork. »Und als die Horden aus Toboribor ganz in der Nähe von meinem Hof vorbeizogen, nahm ich meine Waffe, um mein Haus zu verteidigen. Mein Vater befand sich weit weg von hier, hatte mir aber seinen Dolch dagelassen. Auf ihn schwor ich, meine Mutter und alle Menschen unseres Anwesens zu beschützen.« Zum Beweis legte er die Waffe auf den Tisch.
»Mehr besaßet Ihr nicht?«, hauchte ein Mädchen von sechzehn Lenzen, das in Begleitung der Eltern und des Verlobten reiste.
»Nein. Und die Orks machten nicht vor uns Halt! Sie kamen abends, ein ganzer Trupp dieser Kreaturen und auf der Suche nach Vorräten.« Gilspan sprang auf. »Ich trat ihrem Anführer entgegen und forderte ihn zu einem Zweikampf. Er nahm das Schwert, und ich attackierte ihn mit meinem Dolch...«
»Oh, Ihr mutiger Mann!«, klatschte das Mädchen begeistert und himmelte ihn an.
»Man erzählt sich, dass ihnen das Blut des Geborgenen Landes Unsterblichkeit verlieh«, warf ihr Verlobter mürrisch ein.
»Das hat ihm nichts genützt«, gab Gilspan weiter an und fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum. »Ich war überall gleichzeitig, stach und schlitzte ihn auf, bis ich ihm die Klinge bis zum Heft ins Herz stach und er tot vor meine Füße fiel.« Er stellte einen Fuß auf einen leeren Stuhl. »Da flohen die anderen vor mir, und der Hof war gerettet. Weil er starb, bevor der Stern der Prüfung aufging, ist mir sein Kadaver erhalten geblieben.« Die Gäste applaudierten, die Frauen schoben ihm ein paar Münzlinge zu, und das Mädchen gab ihm ein Seidentüchlein mit ihrem Monogramm darauf.
»Aber wie konntet Ihr ihm denn mit einem Dolch den Kopf abschneiden?«, hakte der eifersüchtige Verlobte ein. »Ein Stich ins Herz genügte, mein Herr.«
Der Verlobte schaute zu dem Ork. »Mit Verlaub, Gilspan, aber die Soldaten, mit denen ich sprach, behaupteten immer, man müsse den Kreaturen den Kopf abschlagen, um sie endgültig zu vernichten.«
Es wurde still. Jeder schaute zu der ausgestopften, Zähne fletschenden Kreatur, die in ihrer Pose durch das Halbdunkel des Raumes eine unglaubliche Lebendigkeit erhielt.
»Stand er vorhin, als wir eintraten, nicht anders da?«, wisperte das Mädchen ängstlich und rückte näher zu Gilspan. Ihr Verlobter nahm sie am Arm und zog sie zu sich herüber.
»Ja«, bestätigte ihr Vater bleich. »Ich schwöre bei Palandiell, dass er das Schwert nach oben gereckt und nicht vor seinem Körper hielt.«
»Was wird das? Ein Schauermärchen für kleine Kinder? Ich habe ihm seine Eingeweide eigenhändig aus dem Wanst gerissen«, sagte der Wirt und ging auf die Kreatur zu.
Ein lautes Knurren erklang, und der Ork drehte den Oberkörper in Gilspans Richtung.
Die Frauen schrien schrill auf, die Männer zogen ihre Waffen. »Ihr idiotischer Wirt!«, schrie der Verlobte. »Ihr habt das Böse in Euer Haus geholt!«
Gilspan verstand die Welt nicht mehr. Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, da bewegte sich der Ork ruckelnd auf ihn zu, hob den Arm mit dem Schwert und warf sich gegen ihn.
Schreiend verschwand der Mann unter dem Scheusal. Er ließ den Dolch fallen und kroch unter dem Angreifer heraus, rutschte unter den nächstbesten Tisch und schrie wie eine alte Jungfer um Hilfe.
Im ersten Geschoss klapperten Türen, viele Stiefel kamen die Treppe hinabgerannt, Laternen wurden gebracht, damit man in der Gaststube besser sah.
Der Ork blieb regungslos am Boden und lachte. Und lachte und lachte... Da erkannten sie im Schein der immer zahlreicher werdenden Lampen, dass es nicht das Ungeheuer, sondern ein Zwerg war, der sich vor Gelächter ausschüttete. Er stand neben dem Tresen und klopfte sich auf die Schenkel, dass es klatschte. Sein Lachen wirkte ansteckend, nicht zuletzt wegen der Erleichterung, dass kein Überfall stattfand, und wegen des angeblichen Helden Gilspan, der vor Angst bibbernd unter dem Tisch ausharrte.
Boindil hatte sich einen Spaß erlaubt und das tote Scheusal mit ein wenig Schieben, Knurren und Wackeln zum Leben erweckt. »Nun, Hänfling«, sagte er und bückte sich, um unter den Tisch zu schauen. »Wie weit ist es um deinen Mut bestellt? Wo hast du den Ork her?«
»Ich...« Offensichtlich versuchte Gilspan, schnell eine neue Lüge zu ersinnen.
»Ho, überlege dir gut, wen du an der Nase herumführen willst«, warnte ihn Ingrimmsch und zeigte ihm die geballte Faust.
»Gekauft. Ich habe ihn gekauft, vor vielen Zyklen«, gestand er reumütig. »Wie alle anderen Dinge an den Wänden.« Die Gäste lachten ihn aus, während er unter seiner Deckung hervorkam. »Unseliger Zwerg!«, beschimpfte er ihn. »Du hast alles verdorben!«
»Ich? Du hast es dir mit deiner Feigheit selbst verdorben. Hättest du dich wie der Mann, der du zu sein vorgibst, auf den Angreifer gestürzt, würden dich alle bewundern.« Boindil nickte dem Verlobten zu. »Gut aufgepasst. Man muss sie wirklich köpfen, damit das Böse ihnen keine neue Kraft verleiht.« Er riss den Krähenschnabel hoch und ließ ihn mit viel Schwung durch den Kopf des Ungeheuers fahren, dann brach er die trockenen Wirbel einfach durch, sodass der Schädel auf der Spitze des langen Dorns seiner Waffe steckte. »Jetzt wäre er für immer tot gewesen.« Er zertrümmerte den Knochen mit einem Hieb gegen den Tresen, die fahlen Stücke sprangen weit umher. »Sicher ist sicher«, grinste er und schulterte den Krähenschnabel.
Am nächsten Tag ging die Reise nach Älandur weiter.
Vom nächtlichen Tumult hatte Tungdil nichts mitbekommen. Er stand des Morgens auf, nachdem Boindil ihn weckte, und machte sich schweigsam an die Reisevorbereitungen. Ohne ein Frühstück einzunehmen, ritten sie weiter nach Südwesten.
Die Pferdchen trotteten unermüdlich vorwärts und folgten der Straße. Um sie herum gab es wenig abwechslungsreiche Landschaft. Es war noch immer leicht bergig, nach zwergischen Ansprüchen eher hügelig; mal ritten sie an Abgründen entlang, mal durch Täler, dann wieder über Anhöhen, von denen aus sie das wildere Nord-Gauragar sehen konnten. Dichtere Wälder suchten ihre Blicke eher vergebens, der Boden war zu karg und sauer.
Ingrimmsch an der Spitze ihres Zuges aß unterwegs etwas; Tungdil hatte sich eine Korbflasche Branntwein vom Wirt erstanden und machte dort weiter, wo er am Abend zuvor aufgehört hatte.
Sein Freund schaute über die Schulter und bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. »Denkst du, es macht es besser, wenn du säufst? Bavragor hätte dir eine Lehre sein sollen.«
Tungdil beachtete ihn nicht und setzte die Flasche wieder an die rissigen Lippen.
»Jetzt ist es genug! Balodil wird dadurch nicht wieder lebendig, Gelehrter!« Boindil wendete sein Pony. »Nutze dein Leben und halte sein Andenken in Ehren, anstatt dich selbst zu bemitleiden und dich zum Gespött zu machen.«
»Nein, Balodil wird nicht wieder lebendig«, murmelte Tungdil. »Ich habe dir gesagt, dass ich saufe, um zu sterben.« Er rülpste und spuckte aus, hob die Flasche erneut.
»Du willst sterben?« Ingrimmsch sprang aus dem Sattel, packte den überraschten Zwerg am Kragen des Lederwamses unter dem Kettenhemd und zerrte ihn auf den Boden. Rücksichtslos schleifte er ihn bis zur Kante eines steil abfallenden Hanges. »Du willst wirklich sterben?« Wütend entriss er ihm die Branntweinflasche und schleuderte sie in die Tiefe. Nach langem Sturz zerschellte sie auf dem Grund und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Gestein. »Dann folge ihr!«, polterte er düster. »Mach deinem jämmerlichen Leben ein Ende. Gleich und auf der Stelle, aber hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Die niedrigste Kreatur besitzt mehr Würde als du!« Tungdil schaffte es nicht, sich aus dem stahlharten Griff Boindils zu befreien. Unbarmherzig drückte der Zwilling ihn mit dem Gesicht nach unten über den Hang.