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Ein warmer Wind wehte von unten hinauf und streichelte sein Gesicht, als wollte er ihn locken und ihn auffordern zu springen.

»Was ist, Gelehrter?«, tobte Ingrimmsch weiter. »Du willst sterben, hast du gesagt! Dann lass los!« Er nahm ihn am Kettenhemd und riss mit seinen ungeheueren Kräften daran.

Irgendwo in Tungdils Innerem regte sich Widerstand. Es war ein unbestimmter Widerstand, ohne Grund, ohne gegebenen Anlass. Es gab nichts, für das er noch leben wollte, und dennoch weigerte sich etwas in ihm, in die Ewige Schmiede einzuziehen. Falls es dort überhaupt einen Platz für ihn geben sollte. Er krallte sich mit den Fingern in das karge Gras, schürfte sich die Kuppen am Stein auf. Der Schmerz verdrängte die benebelnde Wirkung des Alkohols.

»LASS LOS!«, brüllte ihm Boindil aus Leibeskräften ins Ohr. »Ich mache es einfach für dich und erspare dir, weiter Geld in Schnaps und Bier zu stecken.« Er trat ihm wuchtig in die Seite.

Tungdil krümmte sich und verlor den Halt. Sein Oberkörper hing beinahe vollständig über die Kante. »Nein, nein!«, rief er verzweifelt. »Du...«

»Ich werde sagen, du hättest mein Leben gegen eine Übermacht von Wegelagerern verteidigt«, redete Ingrimmsch dessen ungeachtet weiter. »Sie werden dich als Helden in Erinnerung behalten, der rechtzeitig starb, bevor er den letzten Rest seiner Achtung verlor.«

Wieder traf Tungdil der Schuh in die Rippen. Aufschreiend rutschte er noch ein Stück nach vorn. Steinchen rollten hinab, ließen Staubwölkchen am Hang entstehen.

»NEIN!« Die letzten Kräfte aufbietend, drückte sich Tungdil vom Boden ab und verlagerte das Gewicht dabei nach hinten. Mit einem lauten Schrei warf er sich rückwärts, riss Boindil mit, und gemeinsam fielen sie zurück auf sicheren Boden. »Ich... habe es mir... überlegt«, hechelte er.

»Ach?« Ingrimmsch richtete sich auf. »Und woher dieser plötzliche Sinneswandel?«

Tungdil atmete tief ein. »Ich kann es dir nicht sagen. Eine innere Stimme stemmt sich dagegen.« »Eine innere Stimme namens Furcht?«

Tungdil zuckte mit den Achseln. »Nein. Nein, es war etwas anderes.« Er horchte in sich hinein, als käme von dort eine Antwort. »Das Leben, nehme ich an.«

»Die Stimme von Vraccas«, erwiderte Boindil, stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Er wird dich und deine Feuerklinge noch brauchen. Deinem Volk steht ein neuer Feind gegenüber. Vielleicht ist es deine Bestimmung, ihn zu besiegen.«

Tungdil ließ sich von ihm aufhelfen, dann ging er zur Kante des Abhangs und blickte hinab. Es bedurfte lediglich eines kleinen Schrittes, und er wäre alle Sorgen los. Er hob den Fuß... und wieder spürte er die innere Sperre.

»Doch noch Todessehnsucht?«, brummte sein Freund.

»Nein«, antwortete Tungdil nachdenklich. »Ich wollte sicher gehen, dass ich wirklich leben möchte.« Er wandte sich vom Hang ab.

Ingrimmsch hielt ihm die Zügel des Ponys hin, Tungdil nahm sie. »Das willst du. Ich hätte dich hinabgestoßen, wenn du dich nicht mit all deinen Kräften aufgebäumt hättest«, sprach er ernst. »Es ist der einzige Weg herauszufinden, ob man leben möchte oder nicht.« Ein schiefes Lächeln entstand auf seinem Gesicht. »Glaub mir, ich habe die gleiche Kur erhalten wie du.«

»Du warst verzweifelt wegen des Todes von Boendal«, verstand Tungdil und sah zu, wie sich der Krieger in den Sattel schwang.

»Eine Hälfte von mir ist mit seinem Tod gegangen. Mag sein, dass es die bessere Hälfte war. Die andere versank in dumpfem Brüten, Heulen und Trauern, bis ich dachte, ich wollte sterben. Jemand gab mir die gleiche Behandlung wie ich dir, und ich erkannte, dass ich lieber bei den Lebenden weilen möchte. Vraccas wird wissen, wozu es gut ist.« Er zeigte grinsend auf die Straße. »Aber dass er mich zu den Elben schickt, nehme ich ihm übel.« Er ließ sein Tier antraben.

Tungdil lachte leise. »Du hast Recht. Vraccas wird wissen, wozu es gut ist.«

Der heilsame Schock bescherte Tungdil eine Klarheit im Denken, wie er sie das letzte Mal vor dem Tod seines Sohnes besessen hatte. Er hatte alles falsch gemacht. In den ganzen letzten vier Zyklen hatte er alles falsch gemacht.

Es gab nur einen Weg. Er nahm sich vor, so schnell wie möglich zu Balyndis zurückzukehren und sie für alles, was er ihr angetan hatte, um Verzeihung zu bitten. Die bitteren Worte, das unentwegte Saufen, die Abweisungen, wenn sie ihn berühren wollte. Er selbst konnte es sich nicht verzeihen. Versunken streichelte er die weichen Nüstern des Ponys.

Ingrimmsch hatte schon einige Schritte zurückgelegt. »Ho, Gelehrter! Kommst du?«, rief er. »Oder verrät dir das Pferdchen Weisheiten?«

»Ja«, rief er zurück. »Es sagt, ich sei zu fett.«

»Hättest du mich gefragt, hätte ich es dir auch sagen können.«

Tungdil nahm das Pony an den Zügeln und lief los. »Es ist schön, einen Freund wie dich zu haben«, sagte er doppeldeutig. Die Bewegung schadete ihm nichts, und bis nach Älandur waren es noch einige Meilen. Meilen genug, ein paar Pfunde zu verlieren.

IV

Das Geborgene Land, Königinnenreich Weyurn, Mifurdania 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.

»Duck dich, Unglaublicher!« Rodario erhielt Tassias Warnung gerade noch rechzeitig. Er bückte sich, und der gegen seinen Rücken geschwungene Kehrichteimer verfehlte ihn knapp - und traf stattdessen die Frau gegen die Brust. Aufschreiend taumelte sie rückwärts und fiel in die Fluten Mifurdanias, die ihr den stinkenden Inhalt des Eimers gleich wieder vom Kleid spülten.

»Glück im Unglück«, grinste Rodario und schlug dem vorletzten Verfolger, der gerade aus dem Boot auf den Steg gesprungen kam, die Faust ins Gesicht. Auch er tauchte ins Wasser ein. Dann wandte sich der Mime strahlend um. »Herr Umtaschen! Ihr habt mich nicht vergessen? Es freut mich, dass Ihr so rüstig geblieben seid.« »Du Schwängerer!«, schrie der ältere Mann, der unvermutet aufgetaucht war und den Kehrichteimer geschwungen hatte. Er holte ein weiteres Mal aus. »Sie war dem Sohn des Richters versprochen. Der wollte sie mit deinem Balg im Bauch nicht mehr nehmen!« Er schlug zu. »Dafür entmanne ich dich.« »Herr Umtaschen, Eure Tochter hat mich verführt«, gab Rodario zurück und fing den Eimer ab. »Und ich war nicht der Erste, den sie hatte. Glaubt mir, ich hätte es sofort erkannt, wäre es anders gewesen.« Er entriss ihm den Behälter und warf ihn dem letzten ihrer Verfolger entgegen, die ihnen Noliks Vater auf den Hals gehetzt hatte.

Der Mann, der in dem schwankenden Boot stand und gerade überlegte, was er tun sollte, wurde von dem Eimer am Bein getroffen und verlor auf dem unruhigen Untergrund das Gleichgewicht. Platschend folgte er Tassia und seinem Kameraden in die Fluten.

»Die anderen haben ihr dabei wenigstens kein Kind gemacht!«, tobte Umtaschen weiter und schwang die Fäuste. »Wenn das so ist, werter Herr Umtaschen, werde ich mich gern noch mal mit ihr treffen und sie verwöhnen. Euren Segen habe ich demnach ja, wenn ich dieses Mal ein wenig darauf achte, wohin ich ziele«, lachte Rodario und machte einen schnellen Schritt auf den Gegner zu.