»Tassia. Wir gehen.« Rodario ließ die Gestalt nicht aus den Augen. Sie erinnerte ihn an jemanden, doch das konnte nicht sein...
Tassia starrte auf die vielen kleinen Strudel. »Vielleicht taucht er wieder auf?«
Die fremde Frau nahm einen Kurzbogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.
»Tassia! Komm!«
Die Sehne wurde mit einem schnellen Zug nach hinten gedehnt, die Spitze zeigte zu ihm und seiner selbst ernannten Gemahlin.
»Was denn, Unglaublicher?« Sie deutete nach links. »Da könnte er sein. Ich sehe was Dunkles. Vielleicht...« Rodario reichte die Zeit gerade noch, um sich gegen Tassia zu werfen und zusammen mit ihr in die kalten Fluten einzutauchen. Er wollte keine Pfeilspitze in seinem und auch nicht in ihrem Leib. Das Wasser umfing ihn mit kalten, weichen Armen, prustend kehrte er im Schutz eines Steges an die Oberfläche zurück. Tassia durchbrach mit einem lauten Fluch die Wasseroberfläche und schlug nach ihm. »Was hat das zu bedeuten?! Zweimal an einem Tag nass zu werden ist mir zu viel, Rodario!«
»Langsam, kleine Meermaid.« Er deutete nach vorn in Richtung Kahn.
Die Frau stand noch immer auf ihrem Posten, den nächsten Pfeil auf die Sehne gelegt, und lauerte darauf, dass sie ein Ziel zu Gesicht bekam.
Als der Kopf eines Menschen plötzlich wie ein Korken auf dem ruhigen Wasser tanzte, zögerte sie nicht. Ziehen, zielen, loslassen - die Bewegung war fließend, schnell und fehlerlos. Das Geschoss sirrte heran und bohrte sich seitlich vom rechten Ohr in den Schädel.
Der Schrei des Getroffenen wurde durch das in den Mund eindringende Nass zu einem erstickten, blubbernden Laut. Sie hatte in ihrem Eifer den eigenen Gefolgsmann getötet, ohne es zu ahnen.
»Palandiell sei Dank«, raunte Tassia und konnte den Blick nicht von der Leiche wenden, die mit dem Gesicht nach unten an ihnen vorbeitrieb; der Pfeil ragte wie ein toter Ast nach oben. »Und natürlich dir, Rodario. Ich schulde dir mein Leben.«, sagte sie ernsthaft und küsste ihn lange auf den Mund. Trotz der Kühle um ihn herum spürte er ein warmes Kribbeln in seinem Bauch.
Als sie wieder nach dem Kahn sahen, war er hinter einer Häuserreihe verschwunden. Sie kletterten an Land und machten sich - nass wie sie waren - auf den Weg zum Lager des Curiosum.
Zurück blieben drei Leichen und ein Berg neuer Ungereimtheiten. Da sich die Mehrzahl der ungeheueren Begebenheiten des heutigen Tages offensichtlich alle um seinen besten Freund Furgas drehten, war Rodario fest entschlossen, die Rätsel zu lüften. Und ein Bühnenstück daraus zu machen.
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
Die junge, knabenhafte Lia hockte bei den anderen Arbeitern. Sie schaute über die tellerflach anmutende Fläche inmitten Poristas, trank dabei von dem kalten Tee und aß gelegentlich einen Löffel des dicken Eintopfs, den man unentgeltlich hier austeilte. Ihre Aufgabe war gefährlich, aber sehr gut bezahlt: Kundschafterin in einem ganz besonderen Gebiet.
Die Stadt Porista hatte in den letzten Zyklen harte Wandlungen erfahren.
Einst Mittelpunkt des Reiches von Nudin dem Wissbegierigen, einem der Magi des Geborgenen Landes, war es nach dessen Wandlung zu Nöd'onn dem Verräter Austragungsort einer gewaltigen Schlacht und zu großen Teilen in einem Feuersturm vernichtet worden. Gerade kehrten die Menschen zurück, um Neues aus den verrußten Trümmern ihrer Häuser zu schaffen, da marschierten die Avatare mit ihrem Heer ein, um sich die magische Quelle unterhalb des alten Magus-Palastes zu sichern. Das hatte der Rest des Geborgenen Landes nicht zulassen dürfen und sich gewehrt - auch dieses Gefecht hinterließ Narben im frisch wachsenden Porista. Sogar die prunkvolle Palastanlage verkam zu einer Halde unansehnlicher Steine.
Danach war der Frieden eingezogen.
Vor etwa fünf Zyklen, nachdem alle großen Magae und Magi vernichtet und die Magiefelder zusammengebrochen waren, hatte König Bruron Anspruch erhoben und Porista seinem eigenen Königreich zugeschlagen.
Seitdem wuchs die Stadt beständig.
Ein friedliches Heer aus Tagelöhnern war vom Herrscher ausgesandt worden, um die Trümmer der Palastanlage Stein für Stein abzuräumen und Platz für seine eigene Residenz zu schaffen. Und sie hatten es geschafft. Jetzt erinnerten nur noch die Böden der Gebäude und die Zugänge zu den schuttgefüllten Kellern daran, welche gigantischen Ausmaße der Palast Nudins einst besessen hatte.
Lias schmächtige Statur hatte einen Vorteiclass="underline" Sie erlaubte es ihr, an den Trümmern vorbei in die Keller zu gleiten, durch das Geröll zu schlüpfen und sich umzusehen. Nach ihrer Rückkehr ans Tageslicht erstattete sie den Baumeistern des Königs Bericht, die danach entschieden, wie es mit den erkundeten Kammern weiterging: einreißen und mit flüssiger Schlacke auffüllen oder mühsam von Hand ausräumen.
Niemand der Vorgesetzten ahnte, dass sie dabei Nachforschungen in eigener Sache anstellte. Franek, einer ihrer Freunde, näherte sich ihr und reichte ihr einen Brotfladen. Er trug wie sie einfache Kleidung, der Stoff war mitunter durchgescheuert und löste sich an manchen Stellen bereits auf. Seinen dunkelblonden Schopf hatte er mit einer Lederkappe bedeckt. »Hast du sie entdeckt?«, flüsterte er dabei. Auch er gehörte zu den Kundschaftern und wurde an einer anderen Stelle eingesetzt. Auch er hatte sich einem höheren Ziel verschworen.
Die junge Frau nahm das Brot, legte es auf die Schüssel mit dem Eintopf und richtete ihr hellbraunes Kopftuch, unter dem sie die braunen Haare vor dem unterirdischen Staub schützte. »Nein,« sagte sie leise und gestikulierte dabei, als beschwere sie sich über die Qualität des Brotes.
Franek seufzte. »Dann weiß ich nicht, wie lange wir noch suchen sollen. Es sind nicht mehr viele Keller übrig, in denen wir fündig werden können.«
»Ich habe gleich gesagt, dass sie zerschlagen ist. Hast du gesehen, dass selbst die dicksten Quader entzwei gesprungen sind? So enorm war der Druck auf ihnen.« Lia pflegte ihre Schwarzseherei. »Von manchen Mauern ist nichts als zerriebenes Ziegelmehl geblieben.« Sie hielt ihm das Brot wieder hin, er verstaute es unter seiner Jacke.
»Samusin wird uns nicht im Stich lassen«, verabschiedete sich Franek und kehrte an seinen Platz zurück. Lia beendete ihr Mahl, wischte sich die Hände an der Hose ab und kehrte zum Einstieg zurück, vor dem ein offenes Zelt errichtet worden war. Unter dem Tuch, das als Schutz gegen die Sonne diente, unterhielten sich Tamäs und Ove, zwei der Baumeister, und studierten Pläne. Sie grüßte sie im Vorbeigehen. Tamäs, der Jüngere von ihnen, erwiderte ihren Gruß und blickte sie an. Er fand Gefallen an ihr und betrachtete sie daher mit weniger gelehrtenhaften Augen. »Du bist spät dran. Es sind schon zwei unten«, sagte er ihr zwinkernd. »Ich hoffe, es ist Platz genug. Andernfalls darfst du gern oben bleiben, uns Gesellschaft leisten und Karten zeichnen.«
Lia stutzte. »Verzeiht, Herr, wer ist unten?«
»Zwei Jungs, die ich nach unten sandte«, murmelte Ove, ohne die Augen zu heben. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. König Bruron möchte endlich mit den Bauarbeiten beginnen. Die letzten Geheimnisse der Gewölbe müssen erkundet sein. Und da du eine Pause eingelegt hast, musste ich die runterschicken, die frei waren.« Er blätterte um und machte einen Vermerk auf dem Lageplan.
»Unten ist es gefährlich. Ich gehe besser zu ihnen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und sprang die Stufen hinab, hinein in den Keller.