»Die Statue zuerst«, rief ihnen Lia unruhig nach und trat zwei Schritte weg von dem Loch, falls weitere Teile nachgaben. »Dann die Verletzten.«
Die Helfer vergrößerten den Durchlass von unten, währenddessen setzten die anderen die Gestänge und die Winde zusammen. Taue wurden nach unten geworfen und um den steinernen Mann geschlungen. Bald schwebte die Statue aus dem Dunkel nach oben, überzogen mit einer dünnen Schicht Staub und einem riesigen roten Fleck - dem Blut eines der beiden Jungen, die für ihre Entdeckung gestorben waren. Es machte den Eindruck, als verlöre die Statue das Blut.
»Her mit dem Karren!«, befahl Franek, hob eine Lampe und gab das vereinbarte Signal. Gleich darauf rollten die mit Lappen umwickelten Kutschräder ganz leise heran, die Pferde trugen die gleichen dämpfenden Schoner um die beschlagenen Hufe.
Lia wurde immer unruhiger. »Schafft euch herauf«, rief sie in das Gewölbe. »Beeilt euch, damit wir endlich fort von hier kommen.«
Das Tau arretierte, das Gestänge bog sich unter der Last, hielt das Gewicht aber glücklicherweise aus. Die Männer stiegen aus dem Loch und hievten die schwere Statue auf den mit Strohsäcken gepolsterten Wagen. »Die Garde!«, hallte der Ruf über den Platz und kehrte als Echo zu Franek und Lia zurück. »So ein dämlicher Esel«, beschimpfte Franek den Aufpasser, der es mit seiner Warnung zwar gut gemeint hatte, aber die Soldaten Brurons mit Sicherheit noch aufmerksamer hatte werden lassen. Fackeln tanzten als kleine Lichtpunkte heran. »Die Lappen ab«, herrschte er die Umstehenden an und schwang sich auf den Wagen. »Sie haben uns sowieso bemerkt, da kommt es auf das Geklapper auch nicht mehr an.«
Lia folgte ihm und hockte sich neben die Statue. Die Peitsche knallte, die Räder ratterten los. »Halt«, gellte der Befehl eines Gardisten zu ihnen herüber. »Halt, im Namen König Brurons!« Es wurde nicht lange geredet, schon sirrten die ersten Pfeile heran und schlugen überwiegend hinter ihnen ein. Zwei bohrten sich in das Holz, einer zerschellte an der Statue, und ein Geschoss traf Lia in den Unterschenkel; sie schrie auf. Im Schein der Fackeln verfolgte sie, wie die Gardisten sich auf ihre Helfer stürzten und sie festnahmen. Wer den Anschein von Widerstand erweckte, starb, wo immer er stand. Brurons fünf Zyklen alter Erlass zum Schutz von Hab und Gut bestrafte Plünderer nach wie vor mit dem Tod. Dass sie die Gewölbe eines Toten ausgenommen hatten, spielte dabei keine Rolle.
Aus dem Dunkel einer Seitengasse galoppierten vier berittene Gardisten heran, die durch den Lärm aufmerksam geworden waren. Es war ihnen ein Leichtes, auf gleiche Höhe der Kutsche zu gelangen.
»Halt an!«, schrie der vorderste Reiter Franek an. »Ich kann dich...«
Ihr Freund drehte den Oberkörper zur Seite, die Peitsche zischte heran und traf den Soldaten mitten ins Gesicht. Sein Auge zersprang förmlich unter der Wucht des harten geflochtenen Lederriemens. Er stürzte aus dem Sattel; der nachfolgende Reiter musste ausweichen und verlor den Anschluss.
Ein Gardist sprang von seinem Pferd wagemutig auf die Ladefläche und schlug Lia die Faust ins Gesicht, um sie ruhig zu stellen, dann kletterte er über die Statue zu Franek.
»Pass auf!«, krächzte Lia und schluckte ihr eigenes Blut. Ächzend zog sie den Dolch und kroch über den hopsenden Karren dem Gardisten hinterher.
Der dritte Soldat preschte an ihnen vorbei. Sein Ziel war mit Sicherheit das Tor, um den Wärtern den Befehl zu erteilen, dass sie den gewissenlosen Plünderern den Weg versperrten.
Franek hatte aufgepasst. Er schleuderte sein Schwert nach dem Mann, als er drei Armlängen vom Kutschbock entfernt war, und traf ihn in die Seite. Aus vollem Ritt stürzte er zu Boden, überschlug sich mehrmals und wurde von dem linken Hinterrad der Kutsche überrollt.
Der letzte Gardist wollte Franek gerade hinterrücks attackieren, da stieß Lia ihm den Dolch in den Oberarm. Gezielt hatte sie eigentlich auf den Nacken, doch die heftigen Bewegungen der Kutsche machten es ihr zusammen mit ihrer Verletzung unmöglich, genauer zu treffen. Sie wankte, klammerte sich an dem Gegner fest und zog ihn ihm Fallen mit sich. Gemeinsam rollten sie über die Statue und fielen von der Ladefläche des schnell fahrenden Karrens.
Dieses Mal hatte Lia kein Glück.
Sie landete unter dem gerüsteten, schweren Mann und fing seinen Sturz ab. Als ihr Kopf auf das Kopfsteinpflaster Poristas schlug, spürte sie das Knacken ihres Schädels und einen sengenden Schmerz in ihrer Brust. Wärme umspülte ihren Kopf, dann fühlte sie sich federleicht, körperlos.
»Lia!«, hörte sie den leisen Ruf ihres Freundes, den sie durch das laute Klappern der Hufe und der Räder mit viel Mühe verstand.
»Fahr weiter«, sagte sie angestrengt und in dem Wissen, dass er sie nicht mehr vernahm. »Wir haben den ersten Schritt getan Samusin«, flüsterte sie hinauf zu den Sternen. »Dafür gebe ich dir gern mein Leben, Gott des Ausgleichs.« Lia versuchte zu lächeln, bevor der Tod ihr Gesicht erstarren ließ. Es gelang ihr nicht mehr.
Der Gardist, der benommen einige Schritte neben ihr lag, richtete sich auf und langte nach seinem Rufhorn, um die Torwächter zu warnen. Doch an seinem Gürtel hing es nicht mehr. Er fand es zu zwei Dritteln in der Brust der Frau steckend. Beim gemeinschaftlichen Sturz vom Karren hatte es sich unglücklich durch ihr Fleisch und ihre Knochen gebohrt und war gesprungen; das Blut lief umgekehrt wie aus einem Trichter heraus. Er würde seine Lippen bestimmt nicht mehr daran setzen.
»Verdammt«, ärgerte sich der Gardist und rappelte sich auf. Der Plünderer war mitsamt seiner Beute entkommen. Und wenn er es richtig erkannt hatte, was auf dem Wagen lag, handelte es sich um eine ganz besondere Beute: den versteinerten Magus Lot-Ionan.
Das Geborgene Land, Schwarzes Gebirge, Zwergenreich der Dritten 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
König Malbalor Weißauge aus dem Clan der Knochenbrecher vom Stamm der Dritten, Lorimbur, verlas die Nachricht, die ihm der Bote von Königin Xamtys überbracht hatte. Darin stand etwas von einer Maschine und Zwergenrunen geschrieben, die den Tod verhießen. Eine Versammlung sollte stattfinden, die Herrscher und Stadtkönige der Freien sollten ins Graue Gebirge reisen.
»Es wird die alten Gräben aufreißen«, sagte er zu den Vertretern der Clans und den vier übrigen Zwergenstämmen, die mit ihm zusammen in der Halle um den Tisch saßen.
Das Reich der Dritten bestand lediglich dem Namen nach. Nach dem Ende von Lorimbas Stahlherz und der nahezu gänzlichen Ausrottung des Stammes der Dritten durch das Heer des wahnsinnigen und inzwischen abgesetzten Königs Belletain hatten die anderen Stämme Krieger in den Osten gesandt, um den Durchgang ins Geborgene Land zu sichern. Dritte gab es im Schwarzen Gebirge nur noch wenige, und sie bildeten die Minderheit. Manche sagten, die geduldete Minderheit.
»Ihr wisst, dass die meisten Überlebenden meines Stammes sich dem Frieden angeschlossen haben und nun Seite an Seite mit euch leben.« Malbalor hielt das Papier in die Luft. »Diese Zeilen bedrohen die neue Gemeinschaft.«
»Falls es jemals eine gewesen ist«, kam es irgendwo aus der Runde.
Der König konnte nicht einschätzen, wessen Mund die Worte entsprangen. Malbalor erhob sich erbost und zeigte seine imposante Gestalt. Er war ein klassischer Dritter, groß, kräftig und kampfgestählt. Über seinem Kettenhemd trug er einen Panzer aus dünnen Eisenplättchen, die Beine wurden durch einen Kettenrock geschützt. Die braunen Augen versprühten Feuer. »Genau solche Äußerungen sind es, welche die Gräben aufreißen!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch; sein langer, blau gefärbter Bart zitterte. »Merkt ihr nicht, dass es eine List ist? Die Runen sollen doch das Misstrauen gegenüber den Dritten schüren, die friedlich unter euch leben, und neuen Hass säen. Haben wir, die Nachfahren des Zwergentöters Lorimbur, nicht bewiesen, dass wir eben nicht nach dem Tod der anderen Stämme trachten?«